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Eine Wanderung um Chemnitz 1885

    Haben wir letztens eine Wanderung durch die Straßen unserer inneren Stadt angetreten, so wollen wir heute das äußere Stadtgebiet besuchen.

    Die stattlichen Gebäude der Technischen Staatslehranstalten Chemnitz

    Man benutzt hierzu am besten die Pferdebahn und fährt mit derselben bis auf den Schillerplatz, um von hier aus zu Fuß durch die breitangelegte Schillerstraße nach der Nordgrenze der Stadt zu gelangen oder man erreicht dies Ziel, in dem man direkt bis zur Station der Pferdebahn auf dem Wilhelmplatz fährt.

    Auf diesem Wege kommen wir zunächst an dem Sitz der Königlichen Technischen Staatslehranstalten vorüber. Der stattliche Bau, bestehend aus Hauptgebäude mit zwei Flügeln nebst einem besonderen Laboratoriumsgebäude, ist in den Jahren 1874-77 nach den Entwürfen und unter der Oberleitung des Herrn Prof. Gottschaldt erbaut worden und enthält außer den Lehrräumen eine über 13.000 Bände, 1298 Atlanten führende Bibliothek, reichhaltige Sammlungen für Naturwissenschaften, Technik, Architektonik, Feuerlöschwesen etc. und eine Sammlung von Mustermöbel. Die Staats-Lehranstalten selbst umfassen erstens die höhere Gewerbeschule (drei Abtheilungen: für Mechaniker, Chemiker und Architekten), zweitens die Baugewerkenschule, drittens die Werkmeisterschule (3 Abtheilungen für Mechaniker, Färber- und Müllerschule), viertens die Gewerbzeichenschule.

    An der Nordseite des Schillerplatzes zeigt sich uns dann das schön angelegte, im Innern vortrefflich eingerichtete Gebäude der Aktienspinnerei, der bedeutendsten Baumwollspinnerei in Sachsen.

    Der Wettinerplatz, 1883 angelegt, vor dem ehemaligen Schlachthof – jetzt Sachsen-Allee

    Am Ende der Schillerstraße, auf dem Wilhelmplatz angelangt, begeben wir uns nun durch die Wettinerstraße nach den großartigen Anlagen des Chemnitzer Schlacht- und Viehhofes. Diese, den Anforderungen der Neuzeit durchaus entsprechend eingerichteten, ein weites Areal bedeckenden Anlagen sind Eigentum der hiesigen Fleischerinnung und vom Herrn Stadtbaurat Hechler in den Jahren 1881-83 erbaut. Die Anlagekosten betragen etwa 2 Millionen Mark. Neben den vorzüglich eingerichteten Stallungen, Schlachthäusern und Darmwäschereien erregen vor allem die großartig, einzig in ihrer Art angelegten Markthallen unser Interesse. Ein eigenes Wasserwerk mit schönem Wasserthurm, sowie selbständige Bahnverbindung mit dem Hauptbahnhof dienen zum Betriebe des Ganzen. Eine daselbst befindliche Schlachtsteuereinnahme und Eisenbahn-Expeditionsstelle, sowie eine Zentralzahlstelle für den Viehhandel und „Die Chemnitzer Viehmarktsbank“ erleichtern den Geschäftsverkehr. Ein zu den Anlagen gehöriger, behaglich eingerichteter Gasthof befindet sich an dem vor dem Schlachthof parkähnlich angelegten Lessingplatz.

    Vom Schlacht- und Viehhof, dem Endpunkt der Straßenbahn, führt ein angenehmer Weg nach dem von der Stadt aus vielbesuchten Hilbersdorf. Rechts von uns breitet sich nach Süden hin der Zeisigwald aus, in alten Zeiten der „Kaiserforst“ genannt, während sich links vor unseren Blicken ein stattliches Bild der Chemnitzer Industrietätigkeit entrollt.

    Zwischen den nach Dresden und Riesa führenden Bahnsträngen liegt der Werkstätten-Bahnhof, der zusammen mit dem Hauptbahnhofe, auf welchem täglich 188 Züge nach zehn verschiedenen Richtungen verkehren, 50,5 Kilometer Geleise mit 800 Weichen enthält, während sich auf beiden Seiten umfängliche Zentral-Weichen- und Signal-Anlagen mit elektrischer Blockverriegelung an den Ein- und Ausfahrtsgeleisen befinden. Die Werkstätten- Anlagen des Bahnhofs allein beschäftigen 1300 Arbeiter. Südlich vom Werkstätten-Bahnhof sehen wir die zweite Gasanstalt, an deren Gasometer das Wellblechdach mit radialen Wellen bemerkenswerth ist.

    Chemnitztal-Viadukt der Eisenbahnlinie Chemnitz-Leipzig bei Furth

    Nach Westen zu dagegen erstrecken sich längs der Emilienstraße die Filialstellen der in der inneren Rochlitzerstraße gelegenen Werkzeug-Maschinen-Fabrik, vornehmlich Holzbearbeitungsmaschinen-Fabrik und Eisengießerei enthaltend.

    Von hier aus führt uns der Weg nach der westlich, auf dem linken Ufer des Chemnitzflusses, dessen weites Thal hier die Leipziger Bahn auf mächtigem Viadukt überschreitet (Straße nach Furth, Gasthof zur Scheibe mit sich hübsch entwickelndem zoologischen Garten) gelegenen Sächsischen Webstuhlfabrik (Schönherr). An der Straße nach Glösa (durch den Bahnübergang) hübscher Blick auf Dorf Glösa.

    Von den großartigen Schönherr’schen Parkanlagen aus gelangen wir auf dem Fischweg nach Schloß Chemnitz. In einem der Gärten der beiden Schloßrestaurationen, „Schloßgarten“ und „Schloß Miramar“ wird man rasten, um von hier aus den prächtigen Blick zu genießen auf den mitten in herrlichen Parkanlagen liegenden Schloßteich und auf die weithin sich ausdehnende Stadt mit ihren mächtigen Dampfessen, von denen sich die alten Thürme der Stadt vortheilhaft abheben.

    Ansicht der Schloßkirche mit Schloßgarten und Miramar um 1890 – der Turm wurde erst zwischen 1895 und 1897 aufgesetzt

    Das Schloß selbst, ein im 12. Jahrhundert errichtetes, 1274 neuerbautes Kloster, in dessen Mauern im Januar 1290 das Reichsoberhaupt, König Adolf von Nassau, weilte, weißt eine buntbewegte Geschichte auf. Weithin um die Stadt Chemnitz und bis in die Nikolai-Vorstadt hinein erstreckte sich das Gebiet dieser Reichsabtei. Nach der Reformation ging das Kloster in den Besitz der Landesregierung über und wurde für die öfteren, vorübergehenden Aufenthalte der Kurfürsten zum Schloß eingerichtet. Gleichzeitig erhielt die kurfürstliche Amtsschösserei ihren Sitz daselbst angewiesen (bis dieselbe 1608 in das am Eingang zur Johannisgasse, gegenüber der Alten Adler-Apotheke gelegene Amthaus verlegt wurde). Der früher fiskalische Theil des Schlosses ist 1885 in den Besitz der Stadt Chemnitz übergegangen. Sehenswerth ist vor Allem die zum Schloß gehörige Schloßkirche mit architektonisch interessantem Portal.

    Vom Schloß aus führt uns dann der Weg rechts um den Teich herum, am Fuße des Schloßberges, auf welchem die hochgelegene Aktien-Lagerbier- Brauerei Chemnitz-Schloß steht, vorbei durch die reizenden Anlagen der Schloßteich-Insel nach der Sächsischen Maschinenfabrik (vorm. Richard Hartmann). Bevor wir aber an einem kleinen Theil dieses großartigen Etablissements vorüber den Weg nach der Hartmannstraße aussuchen, wenden wir uns noch einmal zurück, um noch einen letzten Blick auf Teich und Schloß mit ihren Jahrhunderte alten Erinnerungen zu werfen und begeben uns dann durch Hartmann- und Kaßbergstraße in das modernste Viertel der Stadt, welches sich bereits über einen guten Theil des im Westen der Stadt gelegenen Kaßbergs ausbreitet.

    Das 1879 vollendete Gerichtsgebäude auf dem Kaßberg

    Nachdem wir die Höhe desselben auf der von Villen umrahmten Kaßbergstraße erstiegen haben, gelangen wir an der schmucken Kirche der „Separirten evangelisch-lutherischen Dreieinigkeitsgemeinde ungeänderter Augsburgischer Konfession“ vorüber nach der 1877 erbauten Gefangenanstalt und dem 1879 vollendeten Justizgebände für Land- und Amtsgericht, seiner großartigen Anlage wegen „Justizpalast“ genannt.

    Alte Nikolai-Kapelle (Sammlung Mike Hähle)

    An der Hohestraße und der verlängerten Seitenfront des Justizgebäudes steht das Königliche Gymnasium. Zu beiden, weit sichtbaren Gebäuden führt außer einer stattlichen Treppe die schöne Kaßbergauffahrt herauf. Von dem Justizgebäude gelangen wir auf dem ins Kappelbachthal hinabführenden Theil der Kaßberg- und Reichsstraße nach der Zwickauerstraße, gehen diese auswärts an Schöne’s Tivoli-Etablissement vorüber, in dessen Garten sich das vielbesuchte Sommer-, oder Thalia-Theater befindet, biegen dann links in der Nähe der ersten, 1854 erbauten Gasanstalt in die Goethestraße ein und gelangen auf dieser, die Neefestraße überschreitend, nach dem von der Stollbergerstraße durchkreuzten Goetheplatz. Hiermit betreten wir ein zweites, noch in der Entstehung begriffenes Villenviertel, über dessen Anlage man sich durch einen Gang durch die Herder- und Parkstraße unterrichten kann, um dann auf der Stollbergerstraße nach der Stadt zurückzukehren.

    Zuvor aber ist es empfehlenswerth, vom Goetheplatz aus die Stollbergerstraße noch eine kleine Strecke weiter aufwärts bis nach der hart an der Stadtflurgrenze gelegenen Restauration „Zum Wind“ zu verfolgen, von wo ans sich eine herrliche Rundsicht über das Chemnitzthalbecken darbietet. Auf der Stollbergerstraße zurückgehend, nähern wir uns dann wieder der Stadt, überschreiten an der Haltestelle Nikolai-Vorstadt den Bahnkörper und begeben uns über Deubners Berg am Garten der Superintendentur und einem Bleichgarten entlang nach der Aue.

    Auf dem soeben überschrittenen Berg stand bis vor Kurzem die schon längere Zeit nicht mehr benutzte, jüngst abgetragene Vorstadtkirche zu St. Nikolai, an deren Stelle ein neues Gotteshaus errichtet werden soll. Hier auf dem alten Nikolai-Kirchhofe hielt bis zu Anfang des 14. Jahrhunderts der Vogt des Abtes jährlich drei Mal das Landding- oder Gaugericht ab, zu dem auch die Chemnitzer Bürger zu erscheinen hatten, und am Fuße des Berges erinnern die Bleichen an die einst so blühende Bleichindustrie der Stadt Chemnitz.

    Von der Aue aus gelangen wir an der Deutschen Werkzeugmaschinen- Fabrik (vorm. Sondermann u. Stier) vorüber in die am Chemnitzfluß sich hinziehende Beckerstraße, an deren äußeren rechten Seite sich bis über den schönen Restaurationsgarten „Sachses Ruhe“ hinaus, die herrlichen Parkanlagen des Herrn Stadtrath Clauß erstrecken.

    Von hier aus überschreiten wir auf der Treffurthstraße den Chemnitzfluß und begeben uns die Annaberger – Chaussee hinab, rechts in die Adorferstraße einbiegend, nach dem Bahnhof Alt-Chemnitz der Aue-Adorfer Bahn. Von da aus gehen wir nach dem Reichenhainer Weg und an dem Baumann’schen Gartenetablissement (Zoologischer Garten) vorüber nach dem neuen Friedhof. Diesen Reichenhainer Weg noch weiter bis in die Nähe des Jägerschlößchens verfolgend, gehen wir links ab durch die Felder hinab nach dem hart an der Stadt gelegenen Bernsdorf, an dessen unteren Ende, auf der Grenze der Stadtflur, das Städt. Kinderversorghaus steht.

    Rechts durch die Felder gelangen wir weiter bei Erlers vorm. Baums Restauration auf die Zschopauerstraße, an der weiter oben die weithin sichtbare Bergschlößchen-Brauerei gegenüber dem nach dem Gablenzthal sich hinabsenkenden Exerzierplatz liegt. An der Straßenseite des letzteren befindet sich das der städtischen Wasserleitung dienende Wasserreservoir.

    Das Hospital St. Georg auf der Feldstraße in einer Illustration um 1890

    Die Zschopauerstraße hinab begeben wir uns nun wieder in die Stadt und kommen am neuen Exerzierhaus und weiter unten an der Hermann Michaeli’schen Fabrik für Dampf- u. Werkzeugmaschinenbau (Spezialität Straßendampfwagen) vorüber herein bis an die Kaserne des hier garnisonirenden 5. Infanterie-Regiments „Prinz Friedrich August“ Nr. 104.

    Rechts durch die Feldstraße, an dem Garnisonslazareth, dem Hospital zu St. Georg und dem Stadtkrankenhaus vorüber begeben wir uns sodann durch die Ufer- und Augustusburgerstraße (E.F. Zenkers Eisengießerei) durch die alte nach der äußeren Dresdnerstraße, wo verschiedene größere Fabrik-Etablissements, besonders die Dampf- und Spinnerei-Maschinenfabrik (vorm. Wiede) und die Werkzeugmaschinenfabrik „Vulkan“ noch unser Interesse erregen und sind dann bald mit wenigen Schritten am Ausgangspunkt unserer Wanderung durch und um Chemnitz, am Centralbahnhof wieder angelangt.

    Leicht gekürzter Originaltext von Wilhelm Zöllner, Oberlehrer am Realgymnasium Chemnitz im damaligen Schreibstil. (Quelle: Sächsischer Lokal-Anzeiger Chemnitz, 28.Mai 1885 zu finden unter SLUB-Dresden.de )