Wenn heute Brautpaare durch dieses Portal schreiten, ist es für sie ein würdiger Rahmen, den neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Es stammt aus einer Zeit, als die Hausbesitzer ihren Reichtum versuchten zu zeigen, nicht wie heute versteckt hinter Mauern und abgeschottet vom Publikum und den Neidern. Mit Portalen und Fassadenverzierungen reichhaltig geschmückt, waren diese Häuser Zeugen einer aufstrebenden wirtschaftlichen Entwicklung der mittelalterlichen Städte. Fast alle bürgerlichen Gebäude rund um den Marktplatz in Chemnitz wurden durch Brände und Kriege zerstört, wie auch durch die veränderten praktischen Bedürfnisse der aufblühenden Stadt abgerissen.
1559, die in dem Wappenschild in der Mitte zu lesende Jahreszahl, können wir als Entstehungsjahr ansehen. Dieses Portal aus Porphyrtuffstein entstammt ursprünglich dem Hause des Tuchmacher und -händlers Merten Groß, der Mitte des 16. Jahrhunderts einer der reichsten Bürger von Chemnitz war. Das Haus stand genau gegenüber des alten Rathauses. Von 1552-1579 mindestens in dessen Besitz, werden ab 1583 Agricolas Erben als Besitzer erwähnt, ehe es 1589 in die Hände von Paul Neefe übergeht. Fortan als „Neefesches Haus“ am Markt benannt, bleibt es bis 1804 in Familienbesitz. Im Juli 1815 lesen wir, wird nun endlich dem Antrag des neuen Besitzers, nach jahrelangem Streit und Einwänden der Chemnitzer Wirte, zur Errichtung einer Herberge unter dem Titel „Römischer Kaiser“ und der notwendigen Schankgerechtigkeit stattgegeben.
Das Haus entwickelt sich zur ersten Adresse im 19. Jahrhundert, besucht u.a. von Adligen und dem Sächsischen Königshaus avanciert es zum „renommiertesten Hotel“ von Chemnitz. Durch das Judith-Lucretia-Portal führte der Durchgang ins Gebäude. Zeichnungen aus dem Jahre 1836 belegen das. In einer Aufnahme um 1886 ist das Portal mit einer moderne Brüstung zugesetzt, spätere Ansichten zeigen das links daneben ein neuer Eingang geschaffen wurde. Wann dies geschah, ist bisher nicht nachweisbar.
1908 schließlich ersuchte die damalige Besitzerin um Genehmigung zum Umbau des Gebäudes, das Portal sollte beseitigt werden. Von einer „Kommission zur Erhaltung der Kunstdenkmäler“ wurden mehrere Vorschläge zum Verbleib erarbeitet, bis man 1910 schließlich die Idee hatte, das kostenlos der Stadt überlassene Portal an der Westseite des alten Rathausturms anzubringen und es auch noch im gleichen Jahr umsetzte. Durch diesen Eingang betrat man auch damals das Standesamt. Das Dach der Vorhalle wurde neben dem kompletten Alten Rathaus bei der Bombardierung der Stadt 1945 zerstört, das Portal glücklicherweise verschont.
Zwischen 1947 und 1949 wurde das Judith-Lucretia-Portal an seinen jetzigen Platz an der Vorderseite des Rathausturmes versetzt. 1955 erhielt es einen neuen Giebel und neue Vasen. Die hier auf dem Bild noch störenden Fenster mauerte man zu. 1978-1982 unterzog man es einer umfassenden Restauration, so wurden u.a. das Hauptgesims und der Rosettenfries ausgebessert. Auch die Gaffköpfe wurden durch Kopien ersetzt. Diese und die Überreste des zersprungenen Giebels sind im Schloßbergmuseum untergebracht. Im Giebel zeigt uns die Inschrift einen Hinweis auf diese Restaurierung. Vielleicht habe ich mit diesem Beitrag einen kleinen Anstoß gegeben, sich das Portal einmal näher anzuschauen, einmal hoch zu schauen und die Details zu finden. Und dabei die Geschichte des Portals zu kennen.
(Quellen: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler Sachsens – R.Steche 1886 – Das Judith-Lucretia-Portal. In: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsverein (65. Jahrgang, Neue Folge IV), S.109-129, Autor: Stephan Weingart)