Trinkmilch, wie wir sie heute kennen, etablierte sich erst ziemlich spät als Teil der Lebensmittelversorgung. Hygiene- und Frischhalteprobleme standen lange Zeit der kommerziellen Nutzung im Wege.
Zunächst waren es nur die Bauern, die Milch, Quark und Käse für den Eigenbedarf herstellten. Mit den Klostergründungen im Mittelalter entstanden die ersten Städte, landwirtschaftliche Betriebe sorgten mit ihrem Landbau und der Tierhaltung für die notwendigen Rohprodukte und Nahrungsmittel. Bald wurde Milch und Milcherzeugnisse für einen größeren Personenkreis produziert, vornehmlich noch in den Klöstern, die Techniken zur Verarbeitung und Lagerung entwickelten. Ähnliche Grundlagen wurden ja auch für das Bierbrauen in den Klöstern geschaffen.
Später entstanden Molkereien, die als spezialisierte Betriebe die Herstellung und den organisierten Vertrieb von Milch übernahmen. Im Unterschied zu Getreide konnte ein sensibles Naturprodukt wie Milch jedoch nicht über weite Strecken transportiert werden. Mit der einsetzenden Industrialisierung nach 1870 entstanden neue Transportwege, die Städte wuchsen in einem ungeheuren Tempo, die Menschen zogen vom Land in die entstehenden Ballungszentren. Der kurze Weg vom Bauernhof in die heimische Küche war für die Bevölkerung nicht mehr gegeben. Neue Vertriebswege wurden erschlossen, Bauern, Molkereien, Milchhändlern und weiterverarbeitende Industrie entwickelten den Handel mit Frischmilch während der Hochphase der Industrialisierung zu einem äußerst lukrativen Geschäft.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert löste dann die Gesundheits- und Reformbewegung eine weitere regelrechte Milchwelle aus. Milchtrinkhallen oder Milchausschankhäuschen waren in jedem Stadtpark, in Freibädern und anderen Ausflugszielen zu finden. Milch stieg zum gesunden Massengetränk auf. In Deutschland bildeten sich gemeinnützige Initiativen für Milchausschank. Sie propagierten Milch als gesunde und „billigste Art der Mahlzeit“ für Fabrikarbeiter, die den Gang in das Wirtshaus erspare. Anliegen dieser „Gemeinnützigen Gesellschaften für Milchausschank“ war es insbesondere, dem Problem des Alkoholmissbrauchs entgegenzutreten.
Auch in Chemnitz gründete sich am 4. Mai 1914 die „1. Gesellschaft für öffentlichen Milchausschank, Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, die von mehreren Chemnitzer Milchkleinhändlern mit dem Zweck gebildet wurde, Milch auf öffentlichen Plätzen und auf geeigneten Privatgrundstücken in eigenen zu diesem Zwecke gebauten Pavillons und Verkaufshallen zu vertreiben. Die Milch kam direkt von den regionalen Erzeugern. „Trinkt Milch – Milch kalt oder warm per Glas 5 Pfg.“ – warben Schaufensterinschriften der kleinen Milchausschankkioske bald auch in den Chemnitzer Straßenzügen.
Erster Gesellschaftssitz war in der Reinhardtstraße 8 bei Molkereiproduktenhändler Friedrich Richard Frohberg, der auch 1. Geschäftsführer war. Ihm folgte 1917 der Milchhändler Paul Adolf Hunger in der Peterstraße 18, der die Geschicke der Gesellschaft bis in die 30er Jahre hinein lenkte und leitete. Noch im Mai 1914 wurde der Betrieb in 5 eigenen Milchhäuschen, die mit einem Kostenaufwand von 22.000 Mark erbaut worden waren, eröffnet.
Das bekannteste Milchhäuschen ist wohl das am Schloßteich, das am 1. Juni 1914 eröffnet wurde. Weitere Kioske befanden sich am Falkeplatz, an der Brückenstraße, am Bernsbachplatz, am Schillerplatz, später kam ein Pavillon am Küchwald, und schließlich das heutige noch in seinen Mauern Bestehende im Stadtpark hinzu.
Das beste Verkaufsergebnis wurde im August 1914 mit 16.800 Litern Vollmilch und 1.400 Liter Buttermilch erzielt. Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges hatte die die Gesellschaft mit der Chemnitzer Stadtverwaltung zudem vereinbart, daß Kinder in bestimmten Schulen Wertmarken erhielten und dafür in den in der Nähe gelegenen Milchhäuschen (Brückenstraße, Bernsbachplatz) der Gesellschaft in den Freiviertelstunden oder am Ende des Schulunterrichtes Milch in Gläsern bekamen.
Bis zum Kriegsausbruch entwickelte sich das Unternehmen sehr gut, dann ließ infolge des Milchmangels der Umsatz nach. Später wurden Kakao, Punsch und schließlich nur noch Tee ausgeschenkt. Trotz der langen Kriegsdauer hat die Gesellschaft den Betrieb nicht eingestellt und nahm nach 1918 den Betrieb bei entsprechender Milchverfügbarkeit wieder auf.
Eine gute Entwicklung nahmen die Pavillons in den städtischen Anlagen am Küchwald, am Schloßteich und im Stadtpark. Nach Kriegsende gab es dort dann nicht mehr nur Milch, sondern auch Kaffee, Kakao, Kuchen, Gebäck und Eis. Kleine Freiterrassen luden, besonders bei schönem Wetter, wie die Bilder zeigen, zum Verweilen ein.
Im Mai 1928 wurde in der Lichthalle des Hauptbahnhofes die erste Milchtrinkstube der Reichsbahn in Sachsen eröffnet, in der Milch aller Art zu sehr günstigen Preisen verkauft wurde. Damit sollte vor allem der arbeitenden Bevölkerung auf dem Weg zur und von der Arbeit die Möglichkeit gegeben werden, sich mit einem Glas Milch zu stärken. Schon in den ersten Tagen nach der Eröffnung verkaufte der Chemnitzer Bahnhofswirt täglich über 400 Liter Milch an Durchreisende.
Die kürzeste Lebensdauer hatte das bisher kaum bekannte Milchhäuschen am Falkeplatz, das bereits 1926 dem Neubau der Deutschen Bank Platz machen mußte. Andere, wie das am Schillerplatz wurde bis 1930 betrieben, am Bernsbachplatz bis 1938, an der Brückenstraße bis 1941, das am Schloßteich war ab 1942 ohne Bewirtschaftung. In den Angriffsnächten 1945 fielen die innerstädtischen Kioske den Bomben zum Opfer. Die Milchhäuschen in den städtischen Anlagen blieben zwar verschont, konnten aber erst Anfang der 50er Jahre wieder voll „in Betrieb“ genommen werden, als die Lebensmittelmarken nicht mehr so eng bemessen bzw. schon entfallen waren.
Das am Schloßteich gelegene Milchhäuschen schloss in den 70er Jahren, und verfiel zusehends. Nach der Wende wurde es abgerissen und durch den heutigen attraktiven Neubau ersetzt, der ebenso wieder an alte Traditionen anknüpft und zum Verweilen einlädt.
Das Milchhäuschen im Stadtpark finden wir heute inmitten des Kleingartenvereins Rosarium Chemnitz e.V. als Freiluftgaststätte Polargarten. Auch dort lohnt sich ein Besuch während eines Stadtparkbummels.
Weitere Ergänzungen folgen, freue mich auf Rückmeldungen zum Beitrag, die Information zur geschichtlichen Entwicklung einzelner Milchhäuschen beisteuern können.
obenstehend verschiedene Postkartenmotive des Milchhäuschens am Stadtpark
(Quellen u.a.: „Die Milchversorgung der Stadt Chemnitz“ 1920, verschiedene Artikel sächsischer Tageszeitungen, Chemnitzer Adressbücher zu finden unter SLUB-Dresden.de, Bilder aus den Sammlungen von Uwe Kaufmann und Jürgen Eichhorn)