Die meisten Menschen denken, wenn von der Chemnitzer Industrie gesprochen wird, in der Hauptsache nur an den Maschinenbau und an die Textilindustrie. Als diejenigen Zweige, die überall bekannt sind, weil sie ihre Erzeugnisse über die ganze Erde verbreiteten und Chemnitz bekannt machten.
Aber es gab in Chemnitz auch in anderen Industriezweigen Betriebe, die ebenfalls nach und nach Weltruf erworben haben, obwohl diese Tatsache meist nur den Wenigsten bekannt ist. Hierzu gehört die von der Firma E. O. Richter & Co. betriebene Reißzeugfabrik. Diese möchte ich genauer vorstellen, und damit eine Lücke in der Aufarbeitung zur Geschichte Chemnitzer Unternehmen schließen.
Aus einer Uhrmacherwerkstatt, die Ernst Oscar Richter ab 1867 in der Chemnitzer Poststraße 15 betrieb, ist das Unternehmen hervorgegangen. Richter stammt ursprünglich aus Schlettau und wurde dort am 25.07.1841, also vor genau 180 Jahren, geboren.
Neben dem Uhrmacherhandwerk beschäftigte sich E. O. Richter, der Anregung eines ihm befreundeten Baumeisters folgend, nebenbei mit der Verbesserung der damals nur in sehr mangelhafter Ausführung hergestellten Zeichengeräte.
Es entstand als erste wichtige Verbesserung ein Nullenzirkel mit feststehender Achse, für den er schon 1874 das Patent einreichte. Mit bescheidenen Mitteln begann er die Fabrikation.
Emil Oscar Richter gründete, gemeinsam mit dem Kaufmann Hugo Lucas Müller, die Firma „Reißzeugfabrik E.O. Richter & Co.“, die am 12.Oktober 1875 unter dem Folium 1795 in das Handelsregister der Stadt Chemnitz eingetragen wurde.
1877 wurde das Haus Poststraße 15 von F.B. Beyreuther erworben, abgerissen und bis 1879 der Neubau des Hotel Mosella mit dem Apollosaal errichtet.
Richter zog er in die Turnstraße 3 (2. Etage) um, ein neues Geschäftslokal unterhielt er mit seinem Companion in der Zschopauer Str.41. Nur kurz, denn mit dem Ausscheiden von H.L.Müller aus der Firma 1878, wurde das aufgegeben und im Haus Turnstraße die 3. Etage zur Herstellung seiner Reißzeuge angemietet. Für die Herstellung der sich mehr und mehr einbürgernden Richter’schen Zeicheninstrumente, mußten weitere Mitarbeiter hinzugezogen werden.
Durch erfolgreiche Beschickung von Ausstellungen gelang es der jungen Firma in kurzer Zeit, ihren Weltruf zu begründen und damit auch eine Grundlage für den Absatz ihrer Erzeugnisse bis in die fernsten Kulturländer der Erde zu schaffen. Medaillen auf dem Produktkatalog zeugen davon.
In rascher Folge wurden neuartige Reißfedern, Punktier- und Schraffierapparate, Federzirkel und Stangenzirkel entwickelt. Auch die Werkzeuge für Lithographen wurden durch Richter erfolgreich und neuartig verbessert, die Entwicklungen standen zum größten Teile unter Patentschutz.
Für den Bedarf der Volks- und Mittelschulen brachte die Firma als erste ein brauchbares, günstiges Reißzeug in den Handel, das sich als „Chemnitzer Schulreißzeug“ rasch in den Lehranstalten und Büros einbürgerte. Auch daß Richter das Neusilber als Werkstoff für die Reißzeugindustrie einführte, ist ein großes Verdienst.
Mit Carl Hermann Bonitz trat 1882 ein Chemnitzer Kaufmann als Mitinhaber in die Firma ein.
Ab April 1885 wurden in der Lutherstraße 33 weitere Räumlichkeiten angemietet, Richter zog 1886 selbst mit seiner Familie ins Nachbarhaus Nr.34.
Im Jahre 1888 entschloß sich die Firma, die bisher mietweise innegehabten Räume aufzugeben und nach und nach die an der Melanchthonstraße 4 und 6 erworbenen Grundstücke für eigene Zwecke zu bebauen. So entstanden ausgedehnte Fabrikanlagen, die Anfang März 1889 bezogen wurden, sowie das architektonisch bemerkenswerte Verwaltungsgebäude in der Nr. 8 zwischen 1906 und 1908.
Richters Wirken krönte 1892 die Erfindung einer völlig neuen Zirkelform, genannt „Flachsystem“. Das bald das führende System für die ganze Welt werden sollte. Schon frühzeitig wurde die Einzelanfertigung durch Handarbeit aufgegeben und die mechanische Anfertigung nach Normen mit Hilfe von Einrichtungen, die Massenherstellung mit Präzisionsausführung vereinigten, eingeführt. Zahlreiche Arbeitsmaschinen, die zum großen Teile eigener Erfindung entstammen, ermöglichten eine weitgehende Arbeitsteilung und machen die Handarbeit des besonders geschulten Mechanikers fast entbehrlich. Nach und nach wurden auch Abteilungen zur Herstellung der Holz- und Lederwaren angegliedert. Denn für seine Präzisionsinstrumente fertigte er die Verpackungen nach dem Motto „Selbst ist der Mann“ in einer eigens errichteten Etuifabrik.
1895 stirbt der langjährige Mitinhaber C.H. Bonitz.
1897 ergänzte Emil Arno Steidtmann als Prokurist die Geschäftsführung, schied aber 1900 wieder aus. Er gründete kurze Zeit später, in Altendorf, selbst eine Reisszeugfabrik, die Firma Steidtmann & Roitzsch.
1898 war das Richter’sche Unternehmen bereits bedeutend angewachsen. Eine Dampfmaschine mit 25 PS lieferte die Energie und zur Jahrhundertwende fertigten 124 Beschäftigte die in Sauberkeit und Güte unübertroffenen Erzeugnisse. Der Umsatz betrug damals bereits über 330.000 Mark.
1906 wurden die Erzeugnisse mit dem Warenzeichen „Original Richter“ noch einmal geschützt. Einen Überblick des Produktionsspektrums zeigt die nebenstehende Anzeige dazu.
Am 18. Juni 1905 verstarb der Firmengründer Emil Oskar Richter nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 64 Jahren.
Er erhielt auf dem Städtischen Friedhof ein repräsentatives Grab, entworfen vom Chemnitzer Architekten, Baumeister und Stadtrat Hugo Duderstädt. Seine am 28.April 1908 verstorbene Ehefrau Auguste liegt ebenfalls darin.
Sie führte bis zu ihrem Ableben die Firma fort, gab zudem ihrem Sohn Hans Peter Richter, Ingenieur, Gesamtprokura für das Unternehmen.
Am 12. Januar 1932 kommt es erneut zu einer Änderung in der Geschäftsleitung. Als Prokuristen werden Diplomingenieur Alfred Walter Richter (vielleicht Richters Enkel?), und die beiden Kaufmänner Paul Kurt Hartz und Heinrich Kurt Bormann, beide aus Chemnitz, ins Handelsregister eingetragen.
1938 erfolgte die Umwandlung in eine GmbH, gleichzeitig wurde das Gesellschafterkapital auf 100.000 M erhöht.
Zum Ende des 2. Weltkrieges lag das Richter-Werk bis auf das Betonskelett des Verwaltungsgebäudes in Schutt und Asche.
Durch die sowjetische Besatzungsmacht Ende der 40er Jahre beschlagnahmt, wurde es erst später zum Ausgangspunkt der wiederentstehenden Reißzeugfabrik. Eine Ausweichfabrikation in Thalheim, zunächst für Haushaltsartikel, hielt die Firma am Leben, so dass zum 75. Firmenjubiläum bereits mit dem Wiederaufbaustolz die Lieferung von Chemnitzer Reißzeugen „nach allen Teilen Deutschlands, Europas und nach Übersee“ mitgeteilt werden konnte. Die Festschrift vom Oktober 1950 verspricht, das Werk Emil Oscar Richters wieder zu seiner alten Größe zu entwickeln. Die Geschäftsführer Paul Erber und Herbert Klausner „hoffen weiterhin unerschütterlich, dass der Tag nicht mehr fern sein wird, an dem wir wieder einer gesamtdeutschen Wirtschaft dienen können“.
Dieser Wunsch hielt nur kurze Zeit. Mit der Überführung 1962 in kommunales Volkseigentum wurde der privatwirtschaftlichen Initiative die Grenzen gezeigt. Später kam es zu einer Fusion mit dem Betriebsteil Labor- und Prüfgerätebau des Buchungsmaschinenwerkes zum „VEB Polytechnik Karl-Marx-Stadt“.
1972 finden wir auf der Melanchthonstraße dazu die Hauptverwaltung und die noch bestehende Reißzeugfertigung. 1981 dann Stammbetrieb des Kombinates „Polytechnik und Präzisionswerkzeuge“, 1990 der Übergang in eine Kapitalgesellschaft „Polytechnik GmbH Chemnitz“, schließlich 1992 die Insolvenz und Auflösung.
Das Ende einer großen Zeit, denn die Computertechnik und entsprechende Software, machten der Konstruktion mit Papier, Tusche, mit Linealen und Zirkeln „Original Richter“ bald überflüssig.
Das Objekt Melanchthonstraße 4-8 wurde an einen Investor verkauft und 2000-2001 aufwendig saniert. Dabei wurde auch das Jugendstiltreppenhaus als ein Prachtstück der Chemnitzer Industriearchitektur originalgetreu saniert.
(Quellen: Adressbücher der Stadt Chemnitz; Annonce im Buch „1000 Jähriges Sachsen“ 1929, zu finden unter SLUB-Dresden.de; Artikel von Addi Jacobi unter Chemnitzgeschichte.de; Firmenvorstellung in verschiedenen Büchern; Bilder aus der Sammlung von Fam.Hähle)