Wir schreiben den 28.November 1909. Die Vorarbeiten waren an diesem Sonntagmorgen erledigt. Der Aufstiegsplatz, das Reineckersche Grundstück zwischen Charlottenstraße, Kantstraße, Bernhardstraße und Reineckerstraße, wurde weitestgehend vom Schnee befreit und drei große Gasrohrleitungen verlegt, die die gleichzeitige Füllung von drei Ballons ermöglichten.
Ab Donnerstag konnte man vorab in einigen Chemnitzer Geschäften Eintrittskarten erwerben.
Die Vorbereitungen zur Füllung hatten schon in den frühen Morgenstunden begonnen; Mannschaften der beiden hiesigen Infanterieregimenter waren zur Hilfeleistung hierzu kommandiert. Durch die drei starken Gasrohre wurde der Füllstoff den Ballons zugeleitet. Mehr und mehr hob sich der auf riesigen Planen ausgebreitete Ballonstoff von der Erde. Die Sandsäcke wurden am Netzwerk befestigt und nach und nach nahmen die Ballons Kugelgestalt an, bis etwa ½ 1 Uhr die Füllung vollendet war. Nun wurden die Gondeln herangebracht, die wissenschaftlichen Instrumente, photographischen Apparate und der nötige Reisebedarf darin verstaut. Mit Umsicht wurden unter der Leitung und Aufsicht der Ballonführer die letzten Vorbereitungen getroffen, und bald wankten und schwankten die vier riesigen Ballonleiber, von kräftigen Händen festgehalten, im Seilwerk. Von einer frischen Brise lebhaft bewegt, neigten sie sich bald hierhin, bald dorthin oder stießen gegeneinander, als könnten sie den Augenblick, in ihr Element, das freie Äthermeer, zu entschweben, nicht erwarten.
Vertreter der Presse berichteten von der Veranstaltung und geben uns ein Stimmungsbild wieder:
Chemnitz im Zeichen der Luftschiffahrt
Ein wenn auch etwas kalter, so doch klarer und sonniger Wintertag begünstigte die stattgefundene Tauffahrt des neuen Ballon „Chemnitz“ des Chemnitzer Vereins für Luftschiffahrt. Die Tauffeier begann mittags 12 Uhr.
Kam man um diese Zeit vom Lutherplatz her durch die Charlottenstraße in Chemnitz-Gablenz, so bot sich für den Ankommenden an der Ecke der Kantstraße plötzlich ein prächtiger Anblick: Vier mächtige Ballons, fast vollständig gefüllt, schwebten da, noch am Boden festgehalten ziemlich dicht nebeneinander auf dem Aufstiegsplatze, einem von den Herren Reinecker freundlich zur Verfügung gestellten großen Grundstück. Prall blähte sich der gelbe Ballonstoff in dem weiten Netzwerk, der Ballon „Chemnitz“ durch einen roten Stoff streifen, der den mächtigen Ballonleib umspannte, als „Fuchs“ für die etwaige Fuchsjagd kenntlich gemacht. An der Tauffahrt nahmen, wie gemeldet, außerdem teil die Ballons:
„Graf Zeppelin“ (Dresdner Luftschifferverein – Führer: Herr Fabrikant Korn – Dresden),
„Leipzig“ (Leipziger Luftschifferverein – Führer: Hauptmann Härtel vom Trainbataillon Nr.19 in Leipzig)
„Plauen“ (Vogtländischer Luftschifferverein – Führer: Herr Rudolf Sieler – Plauen).
Tausende von Zuschauern umstanden außen das weite Areal und auch die Ehrengäste und die Mitglieder des Chemnitzer Vereins für Luftschiffahrt hatten sich auf dem für sie reserviertem Platze zahlreich eingefunden. Dagegen war der Besuch auf den gegen Lösung von Karten zugänglichen Plätzen leider nur mäßig. Der Auffahrt wohnten zahlreiche Vertreter hiesiger Behörden bei. U.a. bemerkten wir die Herren Kreishauptmann von Burgsdorff, Geheimrat Nitze, Oberbürgermeister Dr.Sturm, Bürgermeister Dr.Hübschmann , Polizeidirektor Lohse nebst vielen anderen Herren der städtischen Kollegien, Herrn Oberpostdirektor Geheimer Oberpostrat Richter, von militärischen Gästen die Herren Generalleutnant von Laffert, Exzellenz und Gneralmajor von Kaufmann mit einer großen Anzahl von Offizieren.
Von 12 Uhr an konzertierte die Kapelle der 104er. Mit Marschmusik wurde der Eigenart der Feier weiter Rechnung getragen. Während dem waren einige Pilotballons aufgelassen worden. Der eine gelangte nur bis an einen hohen Schornstein der nahen Reineckerschen Fabrik; der zweite aber entschwebte nach Nordosten, in der Richtung, die einer der aufgestellten Richtungsweiser als nach Meißen, Guben, Danziger Bucht führend, bezeichnete.
Inzwischen war an einem Mast ein blauer Wimpel hochgegangen, das Merkmal dafür, daß nicht eine Fuchsjagd, sondern eine Weitfahrt unternommen werden sollte. Die Fahrtleiter und Ballonführer traten zu einer letzten Beratung zusammen und kamen dahin überein, eine Weitfahrt mit beschränkter Zeit zu unternehmen. 5 Stunden Flugzeit wurden gegeben. Innerhalb dieser Zeit, von der Minute des Aufstiegs der einzelnen Ballons an gerechnet, mußte die Landung erfolgen und die Ballons, die unter diesen Bestimmungen die weitesten Strecken zurückgelegt haben, werden als Sieger aus der Fahrt hervorgehen. Wertvolle silberne Ehrenpreise standen hierfür als Gaben zur Verfügung. Nun – es war ½ 2 Uhr geworden – schritt man zur Ballontaufe. Der Ballon „Chemnitz“, in dem als Führer Herr Hofrat Professor Pfaff aus Leipzig und als Fahrtteilnehmer Herr Stadtrat Giehler, Fräulein Liesa Giehler und Herr Paul Spiegel von hier Platz genommen hatten, wurde in die Nähe der errichteten Rednerkanzel gebracht. Diese betrat zunächst Herr Kommerzienrat Weißenberger, der erste Vorsitzende des Chemnitzer Vereins für Luftschiffahrt, um etwa folgende Begrüßungsrede zu halten:
„Ich begrüße besonders die Herren Vertreter von Behörden, deren Anwesenheit uns den Beweis gibt, daß auch Staat und Gemeinde an den Bestrebungen unseres Vereins warmen Anteil nehmen, sowie die Herren Vertreter der Brudervereine aus Dresden, Leipzig, Plauen und Zwickau. …… Besonderer Dank sei aber hiermit denjenigen ausgesprochen, die uns durch namhafte Geldzuwendungen in die Lage versetzt haben, ihnen den Täufling heute vorstellen zu können. Unsere Stadtverwaltung, die uns gegenüber in jeder Beziehung einen entgegenkommenden Standpunkt eingenommen hat, das Garnisonskommando, die Regimentskommandos, die uns vielseitig unterstützt haben, die bürgerliche Presse, namentlich aber auch die Firma J.E. Reinecker, deren weitgehende Förderung unserer Ziele nicht genug gerühmt werden kann, unseres aufrichtigen Dankes zu versichern, ist mir eine angenehme Pflicht. So haben denn alle Kreise unserer Mitbürger nach Kräften dazu beigetragen, auch in unserer Stadt Chemnitz einen Stützpunkt für die Luftschiffahrt zu schaffen, zum Weiterbau auf den bisherigen Grundlagen der Wissenschaft, zur Förderung der Liebe zum Luftsport, und wenn es nötig werden sollte, zur Unterstützung der Wehrmacht unseres deutschen Vaterlandes. Diese Voraussetzung zu erfüllen wird die vornehmste Pflicht des Chemnitzer Vereins für Luftschiffahrt sein und bleiben.“
Es nahm als dann Herr Kreishauptmann von Burgsdorff, Ehrenvorsitzender des Chemnitzer Vereins für Luftschiffahrt, das Wort zur Taufrede, die reges Interesse und warme Anteilnahme an den Bestrebungen des veranstaltenden Vereins erkennen ließ.
Nachdem der Redner auch seinerseits der Freude darüber Ausdruck gegeben hatte, daß Gönner und Freunde der Luftschiffahrt so zahlreich erschienen waren, um dem Taufakt beizuwohnen, führte er weiter folgendes aus: „Durch diese Feierlichkeit der Taufe gewinnt der Ballon für uns an Bedeutung, erweckt er bei uns ein noch höheres Interesse als bisher. Von diesem Zeitpunkt an sehen wir ihn erst recht als „unseren“ Ballon an….Gemeinsam ist den zur Fahrt bereiten Herren und uns das große Interesse für die hohen Bestrebungen, neben Erde und Wasser auch die Luft den Menschen dienstbar zu machen…. Darum ist dieser Tag ein Tag der Freude und des Stolzes für den Chemnitzer Verein für Luftschiffahrt. Wir teilen diese Freude und hoffen und wünschen, daß der Ballon heute und allezeit unter Gottes gnädigem Schütze auf glücklicher Fahrt siegreich die Lüfte durcheile.“ Darauf wendete sich der Herr Kreishauptmann gegen den neuen Ballon und vollzog, indem er gleichzeitig eine Flasche mit flüssiger Luft auf dem Boden zerschellte, den Taufakt mit den Worten: „So taufe ich dich denn, herrlicher Ballon auf den Namen „Chemnitz“. Trage den Namen glücklich und oft durch die Luft. Glück ab!“
Eine Fanfare ertönt, die letzten Kommandos werden gegeben und frei entschwebt der Ballon „Chemnitz“ gegen ¾ 2 Uhr in flotter Aufwärtsbewegung ins Luftmeer, begleitet von brausendem Jubel der Zuschauer. Noch winkten die Insassen des enteilenden Ballons den Zurückbleibenden zu; da ist auch schon der Ballon „Plauen“, derselbe Ballon der 1908 bei der Gordon-Bennett-Weitfahrt bekanntlich mit zwei Insassen in der Nordsee aufgefischt wurde, zum Aufstieg bereit. Ballon „Plauen“ zieht in ziemlich niedriger Fahrt ab und es muß flott Ballast abgegeben werden, um ihn über die Dächer der Reineckerschen Fabrik zu führen.
Nun entstand eine Pause von etwa 10 Minuten, bis als dritter der Ballon „Dresden“ folgte. Dieser Ballon ist der größte; er faßt 2.300 Kubikmeter Gas, während die anderen drei je 1.680 Kubikmeter fassen. Als letzter folgte dem vorigen nach einigen Minuten – es war 2 Uhr – der Ballon „Leipzig“. Sämtliche Ballons entschwebten zunächst in der Richtung Dresden-Guben-Danziger Bucht, schlugen aber später – soweit vom Aufstiegsplatz aus beobachtet werden konnte – östliche Richtung ein. Noch lange schauten die Zurückbleibenden den enteilenden Ballons nach, im Herzen den Wunsch für alle Fahrtteilnehmer: Frohe Fahrt! Glückliche Landung!“
Von der Kunstabteilung der Chemnitzer Firma J.C.F.Pickenhahn u. Sohn wurden die hier eingefügten Bilder aufgenommen.
Das offizielle Ergebnis der Ballonweitfahrt, das ca. 1 Woche später veröffentlicht wurde, war folgendes: Es gelangten Ballon „Leipzig“ bis zum 243 km vom Aufstiegsplatz entfernten Kummernick (Kreis Liegnitz -Schlesien), Ballon „Plauen“ bis zum 225 km vom Aufstiegsplatz entfernten Punkte bei Bolkenhain (östlich von Hirschberg – heutiges Jelenia Góra), Ballon „Graf Zeppelin“ bis ins 217 km entfernte Schönau an der Katzbach (heutiges Świerzawa), Ballon „Chemnitz“ landete glatt 206 km vom Aufstiegsplatz entfernt, mitten im Riesengebirge, und zwar in der Nähe der Schneekoppe.
Ballon „Leipzig“ erhielt somit den ersten, „Plauen“ den zweiten, „Graf Zeppelin“ den dritten Preis. Ballon „Leipzig“ siegte, weil sein Führer richtig erkannt hatte, daß in den tieferen Luftschichten der stärkste Wind wehte; umgekehrt legte „Chemnitz“ die geringste Entfernung zurück, weil er ins Iser- und Riesengebirge geriet und sehr bedeutende Höhen aufsuchen mußte. „Graf Zeppelin“ hatte etwa bis in Höhe von Löbau die beste Zeit von allen 4 Ballons, dann ging er in zu hohe Luftschichten, auch verlor er einige Minuten dadurch, daß er vor dem Landen in einem Wald mit dem Schlepptau festkam.
Der Chemnitzer Verein für Luftschiffahrt hatte seinen ersten Ballon „Chemnitz“, weitere folgten, die fortan den Namen unserer Stadt in die Welt trugen.
(Quellen u.a. : Artikel aus dem Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger, Nov./Dez.1909, Sammlung W. Bausch / Chr. Köhler – CVfL)