Eine Spurensuche
Die Vielzahl der Gassen und Gässchen, die einst das Chemnitzer Stadtbild prägten, ist heute kaum mehr vorstellbar. Ihre Zerstörung im Frühjahr 1945 bedeutete einen unwiederbringlichen Verlust, denn sie verliehen Teilen des Stadtkerns einen besonderen, fast intimen Reiz. Wer in der Stadt aufgewachsen ist, erinnert sich vielleicht noch an diese verwinkelten Wege. Diese Beschreibung und der dazugehörige interaktive Stadtplan laden Sie ein, sich ein Bild vom Chemnitz vor 1945 zu machen.
Ausgangspunkt unserer Entdeckungsreise ist die Lange Straße (1). Sie erstreckte sich nahezu geradlinig vom Falkeplatz bis zur Poststraße und zählte zu den pulsierendsten Geschäftsstraßen der Stadt.
Von hier zweigte als erste Gasse das Marktgäßchen (2) ab. Es verband die Lange Straße mit dem Holzmarkt (dem heutigen Rosenhof) und mündete dort nahe dem Ufa-Palast, einem der großen Kinos der Stadt. Geschäft an Geschäft säumte diesen Durchgang zum Markt und zog zahlreiche Bürger an. Da auch die Ausgänge des Filmpalastes nahe dem alten Optikerfachgeschäft Richter in das Gässchen führten, herrschte nach Filmvorführungen oft dichtes Gedränge.
Vom Marktgäßchen bog ein kurzer Durchlass ab, der an der etwas versteckt liegenden St. Nepomuk-Kirche vorbeiführte und den Zugang zum Roßmarkt ermöglichte. Der Duft einer Fischbratküche lockte Passanten schon von Weitem an. Von diesem Durchgang bot sich ein einzigartiger Blick über den Roßmarkt zum zentral platzierten, großen Saxonia-Brunnen.
Ebenfalls von der Langen Straße abzweigend, führte die Bretgasse (3) zum Kino „Filmeck“, das sich gegenüber der drei Denkmäler auf dem Markt befand. Das Kinogebäude und ein Teil der Bretgasse haben die Zerstörung überdauert und sind bis heute erhalten. Über die heutige Bretgasse gelangt man, vorbei am „Rest“ der alten Post, zur Bahnhofstraße. Schon früher war die Bretgasse für den öffentlichen Verkehr freigegeben und eine wichtige Zubringerstraße.

Eine weitere Verbindung zwischen der Langen Straße und dem Markt stellte die Passage dar. Sie war vollständig überdacht und für jeglichen Fahrverkehr gesperrt. Zahlreiche Geschäfte und einige Restaurants prägten das Bild dieses belebten Durchgangs. In den oberen Stockwerken der Passagegebäude gab es auch Wohnungen. Leider konnten bisher keine Innenansichten dieser Passage aufgefunden werden.
Zwischen der Brüderstraße (8) und der Lohstraße, die überwiegend von kleinen, zweistöckigen Häusern gesäumt war, verlief das Kammergäßchen. Diese enge, mittelalterlich anmutende Gasse wurde nur wenig befahren und bot eine schnelle Verbindung zum nahen Holzmarkt.
Deutlich belebter war hingegen die an den Getreidemarkt anschließende Kirchgasse (7). Sie mündete gegenüber der Jakobikirche in die Innere Klosterstraße (9) und den Markt. Obwohl sie heute noch existiert, hat sie ihren ursprünglichen Gassencharakter weitgehend verloren und findet kaum noch Beachtung.
Zwischen der Lohstraße, dem einstigen Sitz der Färberinnung, und der Kirchgasse gab es eine schmale Verbindung, die als „Winkel“ bekannt war. Hier war es tatsächlich eng und verwinkelt; wer diese Abkürzung nutzte, fühlte sich in ein vergangenes Jahrhundert zurückversetzt. Einen besonderen Reiz entfaltete der Winkel im Winter, wenn hoher Schnee die Dächer der kleinen Häuser bedeckte – eine romantische Ecke, die jedoch nur wenigen Chemnitzern bekannt war und von noch wenigeren frequentiert wurde.
Viele weitere Straßen im Zentrum, wie die Börnichstraße, Klosterquerstraße (5), Weberstraße, Herrenstraße und Zwingerstraße (6), ähnelten aufgrund ihrer Enge und Kürze den beschriebenen Gassen. Sie alle waren Zeugnisse einer Stadtstruktur aus längst vergangenen Zeiten, als Chemnitz noch von Stadtmauern entlang der heutigen Post- und Theaterstraße umschlossen war.
Bedauerlicherweise unternahmen die Stadtplaner nach dem Krieg kaum Anstrengungen, wenigstens einige Relikte des alten Zentrums zu bewahren. So stehen wir heute der neuen Straßenführung mit ihren Plattenbauten oft skeptisch gegenüber. Vom alten Zentrum sind vor allem die Erinnerungen und Bilder der belebten Geschäftsstraßen mit ihren kleinen, verwinkelten Gassen und Gässchen geblieben.