Lassen wir ein bisschen Kaffeehaus-Atmosphäre aus den goldenen zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf uns wirken. Wir sind am Chemnitzer Beckerplatz, direkt an der Poststraße finden wir in der Nr. 19 in unmittelbarer Nähe des Kaufhauses Tietz das Reichs-Kaffee.
Christian Gottfried Becker – der erste Chemnitzer Großindustrielle, der maßgeblichen Anteil daran hatte, dass sich Chemnitz zum „sächsischen Manchester“ entwickelte – schaut von seinem Denkmal herüber, als ob er uns um einen Besuch beneidet. Die Fassade und die prächtige Ausstattung ist ja auch äußerst sehenswert. Sie erinnert etwas an die Wiener Eleganz der dortigen Kaffeehäuser.
Das Etablissement ist ziemlich groß und erstreckt sich über 2 Etagen. Da hängen die aktuellsten Tageszeitungen aus, sanfte Pianomusik erklingt an diesem Nachmittag vom Podium, das sich auf halber Höhe zwischen beiden Etagen befindet. Noch ist reichlich Platz im Kaffee, ein paar Damenkränzchen haben sich bereits zusammengefunden und plaudern bei einer wohlschmeckenden Tasse Kaffee und einem leckeren Stück Torte über den neuesten Tratsch aus der Chemnitzer Gesellschaft. Einigen älteren Damen sieht man die Häufigkeit des Besuches schon an, ihnen ist die schlanke Linie bereits egal. In der Ecke sitzen 2 ältere Herren und spielen Schach. Dazu kommen noch einige adrett gekleidete Herren, vermutlich aus der Filiale der Allgemeinen Deutschen Creditanstalt oder der Chemnitzer Stadtbank, beide Geldinstitute sind gleich nebenan. Sie beginnen heftig und lautstark zu diskutieren, nachdem wohl ein falsches Wort in der Runde gefallen ist. Doch schnell beruhigen sie sich, denn das dazwischen sitzende zierliche Fräulein ermahnt die Herren zur Ordnung.
Einige Leutchen, die sich hier niedergelassen haben, sind vertieft in ihre Lektüre, ganz konzentriert, und nehmen uns und den entstandenen Disput überhaupt nicht wahr. Sie sitzen in der Mitte des Cafés auf den breiten Sofas. Genüsslich tunkt einer sein Plunderstück in den Kaffee, ohne von der Zeitung aufzusehen.
Wir begeben uns auf die Empore und bestaunen den über 2 Meter langen imposanten Leuchter in der Raummitte. Oben ist noch viel Platz. Der aufmerksame Kellner, im dunklen Livree mit dem Stehkragen und den schwarzen Hochglanz-Lackschuhen, der ein wenig auffällig gekleidet wirkt, ist uns gefolgt und reicht uns sofort die Speisekarte. Ein Blick hinein verrät uns: Da sind vielfältigste süße Sachen vertreten, die Kuchen-und Tortenauswahl ist hervorragend, aber auch herzhafte Speisen sind erhältlich. Wir lassen uns vorerst nur ein Kännchen Kaffee bringen. In der Zwischenzeit schauen wir uns den Raum näher an. Die Wände sind mit gemusterten Stofftapeten bespannt, jeder Bereich hat etwas anders gestaltete Lampen an den verzierten Decken hängen. Aufmerksamkeit erregen auch die 3 großen, schön gestalteten Bleiglasfenster am Treppenaufgang. Insgesamt ein sehr stimmiges Gesamtkonzept, das sich die Innenarchitekten Kornfeld und Benirschke haben einfallen lassen. Angefangen hat der Eigentümer des großen Hauses Hr. Barthel mit einer eigenen Konditorei und Kaffee, ehe er es 1916 an Gustav Mühlbach verpachtet. Später wird das „Reichskaffee“ an die Hotelkette Georg Kossenhaschen übergehen, die auch das Hotel Stadt Gotha an der Friedrich-August-Straße betreibt.
Wie im Fluge, aber entspannt, vergeht die Zeit im Kaffee, hier läßt es sich aushalten. Schon bald treten wir wieder auf die Straße ins pulsierende Chemnitzer Großstadtleben hinaus. Bis 1945 ist die Poststraße eine der wichtigsten Einkaufsstraßen des Chemnitzer Zentrums.
Die Bombardierung 1945 bereitet den Gebäuden ein Ende. Die nachfolgenden Aufnahmen zeigen den kläglichen Rest dieses Straßenzuges.