Zum Inhalt springen

Das Turnfest in Chemnitz 1905

    Chemnitz im Turnfieber

    Stellen Sie sich vor: Chemnitz, Mitte Juli 1905. Die Luft flimmert nicht nur vor Sommerhitze, sondern auch vor knisternder Erwartung und purer Lebensfreude! Die Stadt, ein pulsierendes Zentrum der sächsischen Industrie, verwandelte sich für einige unvergessliche Tage in die strahlende Hauptstadt der Turnbewegung. Das 3. Sächsische Kreisturnfest stand vor der Tür – ein Sportereignis von solch gewaltigen Ausmaßen, dass es noch heute, 120 Jahre später, ehrfürchtiges Staunen hervorruft. Zehntausende strömten herbei, um ein Spektakel aus Kraft, Anmut und Gemeinschaftsgeist zu erleben, das Chemnitz so noch nicht gesehen hatte!

    15. Juli – Samstag: Der Auftakt – „Gut Heil!“ für ein rauschendes Fest

    Vom herrlichsten Wetter begünstigt nahm das Turnfest am Sonnabendvormittag seinen Anfang. In prangenden Festschmuck hatte sich die turnfreundliche Stadt Chemnitz gekleidet. Flaggen, Turner-Embleme, schleifengeschmückte Kränze, Girlanden und Eichenlaubgewinde schmückten die öffentlichen und privaten Gebäude.

    Am Hauptbahnhof empfing ein Meer aus jubelnden „Gut Heils!“ die ankommenden Turner aus allen Winkeln Sachsens. Zug um Zug trafen sie ein, stolz ihre Vereinsfahnen vorantragend, und wurden unter Musikklängen zum Gasthaus „Linde“ am Neustädter Markt geleitet. Dort gab es die Festunterlagen (Plaketten, Ausweise etc.) ausgehändigt, bevor ortskundige Knaben die Sportler zu ihren Quartieren führten.

    Untergebracht waren die Gäste teils in Privat- und Gasthof-Quartieren, teils in Massenquartieren, die in 15 öffentlichen Schulgebäuden errichtet wurden, und wozu die Militärverwaltung 6.000 frisch gestopfte Strohsäcke und ca. 7.500 Decken zur Verfügung gestellt hatte. Nachmittags vereinigten sich nun zunächst die Kampfrichter im „Hotel Centralschlachthof“ zu verschiedenen Sitzungen. Auf dem großen Festplatz selbst entwickelte sich gar bald ein buntes Bild.

    Der Abend gehörte dann dem großen Begrüßungskommers. Man muss sich das vorstellen: Eine riesige Festhalle auf der Planitzwiese, speziell für dieses Ereignis errichtet – 100 Meter lang, 42 Meter breit und 16 Meter hoch, mit sage und schreibe 4.800 Sitzplätzen und einer Bühne für 800 Sänger! Doch selbst dieser kolossale Raum platzte aus allen Nähten. Die Sitzplätze waren bis auf den letzten besetzt, in den Gängen drängten sich die Menschen, und draußen warteten Tausende vergeblich auf Einlass. So einen Ansturm hatte noch kein sächsisches Kreisturnfest erlebt!

    Drinnen sorgte die städtische Kapelle für Stimmung, 130 Turnersänger schmetterten einen frischen Begrüßungshymnus, und die Chemnitzer Vorturnerschaften brillierten mit atemberaubenden Stab- und Keulenübungen. Der Turnverein Chemnitz zeigte eine Musterriege an den Schaukelringen. Natürlich durften auch Reden nicht fehlen – viele und lange, wie es sich für ein ordentliches Fest gehört! In überaus harmonischer Weise klang der Abend aus, nicht ohne Huldigungstelegramme an König Friedrich August und Kaiser Wilhelm auf den Weg gebracht zu haben.

    16. Juli. – Sonntag: Der Höhepunkt – Ein Meer aus Turnern und Begeisterung

    Der Festsonntag begann früh! Schon um 6 Uhr morgens waren die Gaue unter der Losung: „Turner, auf zum Streite, tretet in die Bahn! Kraft und Mut geleite Euch zum Sieg hinan!“ auf den Turnplätzen aktiv. Gegen halb zehn versammelte man sich zum Feldgottesdienst, bevor die Wettkämpfe und Vorführungen unter der strahlenden Julisonne weitergingen. Man sah wirklich bewundernswerte Leistungen und exakte Übungsausführungen.
    Die Planitzwiese selbst, das heutige Gewerbegebiet an der Heinrich-Schütz-Straße, war ein prächtig geschmückter Anblick. Ein riesiger Festplatz, eingezäunt mit Holzplanken und mit weiß getünchten Türmen und Girlanden verziert. Neben der Festhalle gab es fünf geräumige Bierzelte – die Standquartiere der Turngaue – und sogar ein Weinzelt mit Kellnerinnen, deren „bohnenstrohgelbes Haar“ extra für die Festtage „frisch gestrichen“ schien. Ein 400 Quadratmeter großer Tanzplan lud zum „Walzen“ unter freiem Himmel ein. Die Chemnitzer Turn- und Feuerwehrgeräte-Fabrik von Julius Dietrich und Hannak hatte ganze Arbeit geleistet und den Platz mit 40 eisernen Barren, 20 Recks neuester Bauart und 6 Turnpferden ausgestattet. Ergänzt wurde der Turnplatz mit Geräten aus Schulturnhallen.

    der sächsische Prinz Johann Georg (Nr. 6) im Pavillon

    Mittags dann der große Festzug! Über 12.000 Turner, manche Quellen sprechen gar von über 14.300 Teilnehmern aus 25 sächsischen Gauen und sieben gaulosen Vereinen, marschierten in Sechserreihen von verschiedenen Sammelplätzen sternförmig zum „Römischen Kaiser“ am Neumarkt. Die Straßen waren „knüppeldick“ von Zuschauern gesäumt, die trotz Mittagsglut ausharrten und die Turner mit Blumen überschütteten. Staub, Hitze und Schweiß konnten die gute Laune der Turner nicht trüben – der Humor brach bei jeder Gelegenheit durch! Vor dem Hotel defilierte der schier endlose Zug mit seinen rund 550 Fahnen, begleitet von 20 Musikkorps, fast eine halbe Stunde lang an Prinz Johann Georg vorbei, dem Vertreter des Königs. Ein unvergesslicher Anblick!

    Kurz nach 2 Uhr erreichte die Spitze des Zuges den mit über 30.000 Besuchern umsäumten Festplatz. Und was für eine Glut herrschte dort! Entsprechend groß war der Durst, und die Bierfässer wurden belagert. Plötzlich erneute Hurra-Rufe: Prinz Johann Georg traf ein! Nach Ansprachen von Oberbürgermeister Dr. Beck und Oberlehrer Fickenwirth dankte der Prinz im Namen Seiner Majestät des Königs für die patriotischen Kundgebungen.

    Und dann das große Finale der Massenvorführungen: Nahezu 5.400 Turner zeigten Freiübungen in perfekter Synchronität – ein Bild von beeindruckender Disziplin und Kraft. Es folgten großartige Darbietungen der Vorturnerschaften an 60 Barren. Doch damit nicht genug: 800 Teilnehmerinnen begeisterten mit Keulen- und Stabübungen. Ein besonderer Höhepunkt war auch ein Fackelreigen von 450 Turnern auf einer riesigen Fläche. Der Prinz verließ den Platz erst gegen Abend, sichtlich beeindruckt. Der Tag klang aus mit einer Festvorstellung in der Haupthalle, wo bei Gesang und guter deutscher Geselligkeit manche neue Freundschaft geschlossen wurde.

    17. Juli – Montag: Wettkampfgeist und ehrendes Gedenken

    Am Montag stand der anspruchsvolle Sechskampf auf dem Programm. Zwar landete Chemnitz im Gauwettturnen nur auf Platz 20 und blieb im Dreikampf sowie im Ringen chancenlos, doch im Sechskampf schafften es immerhin zwei Chemnitzer unter die ersten Zehn. Ein feierlicher Moment war mittags die Einweihung des Zettler-Denksteins auf dem neuen Friedhof für den verstorbenen städtischen Turndirektor Moritz Zettler – ein imposanter Granitfelsblock, aus dem symbolisch zwei Eichbäume wachsen, die ein Bronzerelief Zettlers umrahmen. Abends traf man sich erneut in der großen Festhalle zu einem großen Konzert des Chemnitzer Vereinsorchesters, wobei mannigfache turnerische Darbietungen den Besuchern vorgeführt wurden, ergänzt mit einem Feuerwerk und anschließendem Sommernachtsball.
    18. Juli – Dienstag: der Ausklang

    Am Dienstagvormittag fand ab 7:00 Uhr der Dreikampf (Schleuderball, Dreisprung, Kugelstoßen) im Einzelwettturnen statt. Die 150 Turner zeigten wieder herausragende Leistungen und erfreuten das Publikum. Im Anschluss gab es die Möglichkeit, geführte Besichtigungen der Chemnitzer Sehenswürdigkeiten zu unternehmen. Auf dem Freiübungsplatz, umsäumt wieder mit tausenden Zuschauern, gab es nachmittags ein großes Schulturnen mit über 2.600 Kindern, deren Übungen mit imponierender Exaktheit zur Darstellung gebracht wurden. Am Abend wurden in der Festhalle die Sieger ausgezeichnet, begleitet von einem großen Konzert.

    Ein Fest der Superlative

    Das 3. Sächsische Kreisturnfest 1905 war mehr als nur ein sportlicher Wettkampf. Es war eine Demonstration sächsischer Turnkraft, ein Volksfest sondergleichen und ein unvergessliches Erlebnis für alle Beteiligten. Die Zahlen sprechen Bände: Anhand der verkauften Eintrittskarten wurden sage und schreibe 89.000 Besucher auf dem Festplatz gezählt. Am Sonntag wurden davon allein 42.000 Tageskarten verkauft! Die Straßenbahnlinie „Reichenbrand – Neue Kasernen“ zum Festplatz verzeichnete rund 125.000 Fahrgäste. Die Zeitschrift „Turner aus Sachsen“ brachte es auf den Punkt: „Die sächsische Turnerschaft hat noch nie ein Fest gefeiert, das eine solche Beteiligung seitens der Bevölkerung gefunden hat.“
    Chemnitz hatte sich als glänzende Feststadt präsentiert und ein Kapitel Sportgeschichte geschrieben, das von purer Begeisterung, beeindruckenden Leistungen und einem überwältigenden Gemeinschaftsgefühl kündet. Ein wahrlich königliches Turnfest!

    (Quellen u.a.: Berichte versch. sächsischer Tageszeitungen unter SLUB-Dresden.de; Führer durch das Kreisturnfest 1905)