Geschrieben am 14.April 1918
Am Abend vorher war ich im „Kaufmann von Venedig“ gewesen und spät zu Bett gegangen. Dennoch trieb mich der anbrechende Sonntagsmorgen heraus. Schnell wurde ein wenig geturnt, das Süppchen gegessen, einiges geordnet, und dann ging es hinaus mit froher Stimmung in die frische Frühlingsluft. Vom klarblauen Himmel strahlte die allmählich mehr und mehr wärmende Sonne. Nur einige Spaziergänger waren unterwegs. In meinem Villenviertel auf dem Kaßberg erfreuten mich die stolze Magnolie, bescheiden sich erschließende Kirschblüten; sogar ein Rhododendron hatte schon all seinen weißen Schmuck aufgesteckt. In weniger schöner, geschlossener Häuserreihe schweiften meine Gedanken ab von der Gegenwart zur Vergangenheit und Zukunft, wie jene hätte sein können und wie diese werden möchte. Der im ersten zarten Grün stehende Goetheplatz wird erreicht, ein genesender Soldat kommt vorüber, den ich gern grüße. Mit leichtem Sang und Klang geht es weiter zum oberen Eingang des Stadtparkes, wo ein Specht mich von einer Uferpappel her hämmernd begrüßt. Auch hier ist das frische Grün schon über Baum und Strauch gebreitet. Ich wähle den oberen Weg mit hübschen Blicken nach den tieferliegenden Anlagen. Das Hellgelb der Forsythia wechselt mit dem saftig leuchtenden Rot der Johannisbeerziersträucher. Birken, Buchen und Ahorn blühen, dieser in einem besonders schönen Baum, dessen gelbgrüne Blütenbälle sich in voller Pracht wirkungsvoll vom Himmelsblau abheben. Abwärts führt der Weg, hinaus aus dem Bereiche der hohen Bäume und weiten Wiesenflächen zum streng regelmäßigen Rosengarten, den jetzt nur die beschnittenen Hecken und Kugelbäumchen ein wenig schmücken, während ein Gesundheitsfanatiker, auf einer weißen Bank ausgestreckt, den unbedeckten Kopf von der lieben Sonne bestrahlen läßt.
Der nach dem verstorbenen, verdienstvollen Oberbürgermeister Heinrich Sturm benannte breite, ebene Parkweg führt in freiere, flache Landschaft, deren größere Unberührtheit durch einige wilde Kaninchen gekennzeichnet wird, die mit weißer Blume durch Busch und Gras davonjagen. Auch ein Hase kreuzt den Weg. Überall duftet es stark, aber nicht aufdringlich, wie bei mancher Schönen, nach den aufbrechenden Knospen der Balsampappel. Eine Kastanie steht am Wege, ihre kahlen, braunschwarzen Zweige mit den kräftigen Spitzen starr gen Himmel richtend und sich scharf von ihm abhebend. Vogelgesang erfreut den Wanderer. Stoßweise ertönt der Drossel Schlag vom nahen Baume, während ihre Verwandte, die Amsel, in ruhigen, langgedehnten Flötentönen sich aus der Ferne vernehmen läßt. Finken schlagen, anderes gefiedertes Volk läßt mit den Lerchen um die Wette seine Weisen ertönen, und die kleine Kohlmeise klettert, nach Nahrung suchend, auf den Ästen herum. Hummeln und Bienen summen umher, alles führt ein neues Leben und so zieht es auch in mich ein. Eigenartig leuchten die silberhellen, graugrünen Knospen der Ebereschen an schwarzen Ästen ins Himmelblau, ernst und Dunkel steht das Nadelholz auf dem Rasen verstreut. Nur die Kiefer hat schon lange, kerzenartige Triebe aufgesetzt. Weit reicht der Blick über die Wiesenflächen zu den villenbesetzten Hängen, die in weichem Dunste verschwimmen. Ein großer Teich kommt in Sicht.
Am nahen Ufer bewegen sich schwerfällig 2 schwarze Schwäne mit leuchtend roten Schnäbeln; das Ende der Wasserfläche und ihr Hintergrund lösen sich in silbergrauer Nebelstimmung auf.
Immer noch nimmt die Parkanlage kein Ende. Sie führt um eine Häuserreihe von Markersdorf, der Hang rückt heran und läßt auf sich den Weg gen Harthau verschwinden. Nach 1½-stündiger Wanderung ruht es sich in der kühlen Wirtschaft zur Schmiede bei einer Tasse sogenannten Kaffees, vom schlanken, einfachen Töchterlein gereicht, doch ganz wohlig. aus. Beim Heimwandern weht mir frische Luft entgegen, weshalb es sich nun wieder flott ausschreiten läßt. Ich überhole Kinder, die Mundharmonika blasen und denen mein unerwartetes Dazwischenflöten mit dem gleichen Instrument großen Spaß macht. Eifriges Leben herrscht auf den Feldern bei Helbersdorf, wo in großer Zahl alte und junge Männer und Frauen, Mädchen und Knaben kriegswirtschaftsbereit wohl meist ungewohnte Arbeit verrichten.
Ganz eingenommen bin im vom Anblick einer über und über blühenden Birke, deren lange graue Räupchen wie ein Schleier den ganzen Baum umhüllen. Im großzügig angelegten Blumengarten winkt noch die Schneerose, prangen schon Lungenkraut, Tazetten, blaue Weinträubchen und Leberblümchen, von einigen frühen Faltern umgaukelt. Ein Rückblick über diesen Ziergarten zeigt mir in der Ferne die klarblau gewordenen Bergzüge, denen dunkel und hart die beschnittenen Hecken als Vordergrund dienen. Durch den unteren Teil der alten Parkanlage gelange ich zum Denkmal von deren Schöpfer, Fabrikbesitzer Clauß. Fahl leuchtet die Schuppenwurz unter einer seitlich davon stehenden Fichte. Bei der Frühstückrast an der Annabergerstraße setze ich mich neben ein kleines Mädchen, das ins Kopfkissen ihres Kinderwagens grüne Triebe flicht und mir ruhig Zuschauenden auch ein solches Blättchen schenkt. Die Wanderung ist vorüber, der Morgen weicht dem Mittag mit dem Getriebe der Großstadt, in die ich zur Erinnerung und Erquickung die eben genossenen Stunden hinübernehme. In diesen Zeilen festgehalten, sollen sie mir und vielleicht auch anderen weiter Freude bereiten. R.
Quelle: Glückauf – die Zeitschrift des Erzgebirgsvereins – Nr.3 Mai/Juni 1920, Seite 49 zu finden unter SLUB-Dresden.de