Die Wiege der deutschen Baumwollspinnerei stand in Chemnitz, ihr verdankte die Stadt den Beinamen „Sächsisches Manchester“. In der Bernhard’schen Spinnerei in Harthau wurden die ersten mechanischen Spinnmaschinen am Anfang des 19. Jahrhunderts, noch aus England eingekauft, aufgestellt.
Vor nunmehr 165 Jahren wurde mit der Chemnitzer Aktienspinnerei ein weiteres großes Etablissement gegründet, das diese Tradition fortsetzte und federführend bei der Garnherstellung in Chemnitz galt. Ein Blick auf die Entwicklung der Firma und die Nutzung der Gebäude am Chemnitzer Schillerplatz.
1856 begannen die Vorplanungen zu dem für damalige Zeit beachtlichen Unternehmen, ein ausführliches Projekt zur baulichen Ausführung wurde öffentlich vorgestellt. Im September sicherten sich die Initiatoren, die Herren Maschinenfabrikant August Götze, M. F. Bahse und Carl Knackfuß – letztere beide Teilhaber des „Garn- und Geld-Geschäftes Carl Knackfuß“
am Angermarkt – so hieß die große freie Fläche zur damaligen Zeit – ein bedeutendes Grundstück für die geplante Baumwollspinnerei. Sie sollte ganz aus Eisen und Stein gebaut werden und 256 Ellen lang sowie 42 Ellen tief sein.
Am 30. März 1857 fand in der Bahnhofswirtschaft in Chemnitz die erste konstituierende Sitzung der neuen Aktiengesellschaft statt. Vorab war bereits von den obigen Initiatoren unter Beteiligung der Allgemeinen Deutschen Credit-Anstalt Leipzig, der Disconto-Gesellschaft Berlin und durch private Finanziers und Freunde ein Kapital von 720.000 Thalern zur Gründung der projektierten Actien-Spinnerei gesichert worden.
Ab dem 1. März 1857 konnte man bei verschiedenen Banken und Personen weitere Anteile in Höhe von 280.000 Thaler in Form von Aktien zeichnen. Dieses Grundkapital von 1 Mill. Thaler wurde benötigt, um die Gesellschaft zu gründen.
Damals war die deutsche Weberei und Wirkerei für den Bezug von verschiedenen Garnen und Zwirnen noch vollständig auf England angewiesen. Aufgabe des groß angelegten Unternehmens bildete daher die Erzeugung von Garnen, um sich möglichst unabhängig von den englischen Importen zu machen.
Man versprach sich mit der Spinnerei verschiedene Vorteile. Der vorhandene Baumwollmarkt, an dem fast alle größeren Händler in- und ausländischer Märkte vertreten waren, und die Eisenbahnnähe bildeten dazu eine wichtige Grundlage. Kurze Lieferwege zu bereits in Chemnitz und der Umgebung vorhandenen Webereien und Wirkereien, die Nähe zu den Kohlegruben im Oelsnitzer Kohlerevier (die Energieerzeugung erfolgte damals größtenteils mit Hilfe von Dampfmaschinen) sowie die bereits vorhandene Arbeiterbevölkerung kamen hinzu.
Einstimmig wurde bei der Versammlung an diesem 30. März 1857 die Konstituierung der Gesellschaft beschlossen, nur mußte das „Statut“ durch die Königlich Sächsische Staatsregierung genehmigt werden, das am 26. August 1857 erfolgte.
Das erste Direktorium bestand aus den Herren: M. F. Bahse, August Götze und F. G. Gehrenbeck junior, der erste Aufsichtsrat aus den Herren Louis Benndorf, Professor Theodor Böttcher (später Geheimer Rat, Direktor der 3. Abteilung im Königl. Ministerium des Innern in Dresden), Max Hauschild, Rudolf Heidenreich, Brandversicherungsinspektor Kato, Wilhelm Vogel und Alexander Wiedemann, sämtlich in Chemnitz, dazu Bankdirektor Poppe-Leipzig und Carl Friedrich Solbrig aus Harthau. Zudem wurde aus dem Verwaltungsrat heraus eine besondere technische Deputation gebildet, welcher die Herren Max Hauschild, C.F. Solbrig und Brandversicherungsinspektor Kato angehörten.
Die Bauarbeiten begannen am 15. April 1857. Nach Plänen des Architekten Friedrich Theodor Roschig wurden die Gebäude in Angriff genommen, den Bauauftrag erhielten die Chemnitzer Maurermeister Carl Traugott Müller sen. und jr., als Familienbetrieb am Chemnitzergraben 11 ansässig.
Die damaligen Gründer konnten nach sorgfältiger Prüfung und Vergleichung der Preise und Leistungsfähigkeit dazu kommen, den größten Teil der Lieferung von Kraft- und Spinnmaschinen in Chemnitz zu vergeben, denn die Stadt besaß schon damals einen blühenden Maschinenbau, der alle benötigten Produktionsanlagen herstellte. Richard Hartmann lieferte zum Beispiel die 2 Doppel-Dampfmaschinen mit jeweils 250PS als Antriebskraft für die Transmission. Neben dem Hauptgebäude entstanden ein Maschinenhaus mit einem 97! m hohen Schornstein, ein Wirtschaftsgebäude mit Pferdestall, Kutscherstube, Geschirrkammer und einer Schreibstube. In einem Lagerhaus mit 3 Geschossen konnten bis zu 1 000 Ballen Garn und Wolle untergebracht werden. Die Kosten der Gebäude und Anlagen einschließlich des wertvollen Grundstückes betrugen 1861 1.312.215 Taler.
Nach und nach konnten die 60.000 in Aussicht genommen Spindeln in Betrieb gesetzt werden. 1860 fertigten fast 1000 Arbeiter bereits 972 000 Pfund Garn. Das Pfund Garn wurde damals mit 120 Pfg. verkauft.
In der ersten Zeit hatte mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Infolge der übermäßigen englischen Konkurrenz mußte bald zur Erzeugung gröberer Garne übergegangen werden. Die höchste Produktion wurde mit
dieser Spindelzahl im Jahre 1863 mit 1.671.000 Pfund (zum Preise von 219 Pfg. verkauft) erzielt.
Bemerkenswert ist auch, das die Spinnerei 1858 als erstes Unternehmen einen Gleisanschluß zur Chemnitzer-Riesaer Eisenbahnstrecke erhielt. Dazu wurde eine Brückenkonstruktion aus Stein und Holz über die Schillerstraße errichtet. Die Entladung der Waggons erfolgte im Obergeschoß des Lagergebäudes. Im Stadtplan von 1865 ist dieser Anschluß bereits eingezeichnet und auf der Illustration zur großen Gewerbeausstellung 1866, die erst ein Jahr später stattfand, ist die Konstruktion ebenfalls zu erkennen. Um 1905 wurde dieser Gleisanschluß vermutlich demontiert.
Die Garne erfreuten sich dabei von Anfang an eines guten Rufes und wurden bei der Chemnitzer Industrie-Ausstellung 1867 mit dem ersten Preis ausgezeichnet.
Der amerikanische Bürgerkrieg in den Jahren 1861-65 verursachte dem Etablissement, wie den meisten anderen Spinnereien, schwere Verluste. Das Ausbleiben der amerikanischen Zufuhr von Baumwolle in dieser Zeit war auch ein triftiger Grund für die deutschen kolonialen Baumwollanbaubestrebungen später.
Die Produktion ging im Jahre 1866 auf 1.392.000 Pfund zurück und die Knappheit der flüssigen Mittel bei kleiner Produktion und sehr hohen Baumwollpreisen machte es nötig, im Jahre 1868 das Kapital von einer Million Taler auf ein Drittel zusammenzulegen.
Nur der Energie und Aufopferung des damaligen Direktoriums, vor allem Herrn August Götze, ist es zu danken, daß es jene Periode glücklich überstanden wurde. Es gelang, durch strenges Haushalten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, die Krise zu überwinden und die Gesellschaft lebenskräftig zu erhalten, bis die Zolltarifreform 1878 neue Produktionsverhältnisse schuf.
1879 wurde ein Badelokal für die Belegschaft errichtet, 1881 ersetzte ein Kontorgebäude das alte abgerissene Wirtschaftsgebäude, weitere technische Installationen wie Seiltürme und Laufkransystem ergänzten die Modernisierung.
1884 wurde die Aktiengesellschaft erweitert, in dem man die Chemnitzer Baumwollspinnerei von Victor Nef, Annaberger Chaussee 1, erwarb. Infolge dessen wurde das Aktienkapital im Jahre 1885 auf 1.500.000 Mk. erhöht. Auch wurden 1884 die Antriebsmotoren (1200 PS) und die Transmission einer Erneuerung unterzogen. In den Jahren 1887—1891 wurden die alten Spinnereimaschinen im Stammetablissement durch neue Englische ersetzt, Geld dazu erhielt man unter anderem von der Dresdner Bank, die 4½ % Prioritäten (Vorzugsaktien) erwarb.
Die im Jahre 1895 beschlossene allmähliche Überführung des Betriebes an den Oberlauf des Chemnitzflusses im Stadtteil Altchemnitz wurde innerhalb von elf Jahren konsequent durchgeführt. 1896 erfolgte die Grundsteinlegung für die neuen Anlagen in Altchemnitz. Im Stammhaus am Schillerplatz wurde bis 1914 gesponnen, obwohl schon mit Vertrag vom 30. Dezember 1899 das Grundstück und Gebäude an die Stadtgemeinde Chemnitz für 900.000 Mark verkauft worden war. Neben Firmen wie der Mech. Weberei von C.A.Speer, der Mech. Stickerei von N.Strauß und der Teppichfabrik von Fritz Loewentahl war man nur noch Mieter im ehemaligen Eigentum.
Weiter geht es demnächst mit dem 2.Teil und der Nachnutzung der Gebäude am Schillerplatz.
Wie es heute rund um das Gebäude aussieht, können sie sich im Beitrag „Rund um den Schillerplatz“ mit 2021 entstandenen Drohnenaufnahmen anschauen.
(Quellen u.a.: Die Groß-Industrie des Königreichs Sachsen in Wort und Bild. 2.Teil -1893; Festschrift zur Versammlung des Bundes Deutscher Ingenieure Chemnitz -1898; Festschrift zur Einweihung des Neuen Rathauses Chemnitz 1911; Deutschlands Städtebau – Chemnitz, Ausgabe 1923; diverse Zeitungsartikel zu finden unter SLUB-Dresden.de; Publikation „Alte Aktienspinnerei – Umbau und Sanierung zur Zentralbibliothek der Technischen Universität Chemnitz 2020“)