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Die Windhose von Chemnitz

    Durch seine Lage im Talkessel, am Auslauf der aus den erzgebirgischen Tälern kommenden Flüsse erlebte Chemnitz so manche Überschwemmung in den letzten Jahren und Jahrhunderten. Vielen sind die Bilder noch in Erinnerung. Gelegentlich ziehen auch Unwetter über unsere Heimat. Die wohl schlimmste Sturmkatastrophe mit gravierenden Schäden erlebte Chemnitz in den letzten Maitagen des Jahres 1916. Eine Windhose, begleitet von Sturm und Eishagel – mit teilweise hühnereiergroßen Hagelkörner – fegte über die Innenstadt und richtete massive Schäden an. Die Stromversorgung in weiten Bereichen der Stadt war gestört: Straßenbahnen blieben stehen, sämtliche elektrische Beleuchtung erlosch, Kinos und Theater wurden geschlossen. Die Gaststättenbesitzer improvisierten, Gäste versammelten sich bei Kerzenschein in den am Samstagabend immer gut gefüllten Lokalen.

    Sämtliche zur Verfügung stehenden Feuerwehrmannschaften und Soldaten der Garnison wurden bei der Schadensbeseitigung eingesetzt, so mussten die Eisenbahngleise Richtung Leipzig und Dresden von Trümmern befreit werden. Bei einem Personenzug Richtung Riesa wurden viele Fenster eingedrückt, zahlreiche Personen wurden dabei verletzt. Mehr als 100 Gebäude wurden mehr oder weniger stark in Mitleidenschaft gezogen, unzählige Fernsprechleitungen zerstört. Gegen 22.00 Uhr an diesem Abend war alles soweit vorüber, die Stromversorgung wiederhergestellt. Züge hatten jedoch stundenlange Verspätungen oder fielen ganz aus. Das ganze Ausmaß wurde aber erst in den nächsten Tagen deutlich. Kurz darauf erschien ein kleines Heftchen mit dem Titel „Die Windhose von Chemnitz“, im H. Thümmler-Verlag Chemnitz, dessen Reinerlöß teilweise den Geschädigten zu Gute kommen sollte. Auszugsweise hier im Originaltext:Das wird für immer ein schwarzer Tag in der Geschichte der Stadt Chemnitz bleiben, der 27. Mai 1916, in dem die Fauste der Natur mit hartem Griff unsere Schloßteichanlagen, die Perle der Stadt, die Erholungsstätte unserer Bevölkerung und den Anziehungspunkt für die Fremden mit rauher Gewalt verwüstet und unermesslichen Schaden auch in der Umgebung angerichtet haben. In ein paar Minuten zerstörte und vernichtete die Natur, was sie in Jahrhunderten aus der Erde emporsprießen ließ und was Menschenhände in jahrelanger Arbeit geschaffen haben. Lachend und strahlend stand am Nachmittag des  verhängnisvollen Sonnabends die Sonne am blauen Firmament. Da plötzlich gegen 5 Uhr ballten sich die Wolken zusammen und bald war Chemnitz in eine Dämmerung gehüllt, die immer düsterer wurde, je mehr sich der Zeiger der Uhr der sechsten Abendstunde näherte. Es war wie eine Drohung; die Gott sei Dank beherzigt wurde: die Menschen, die das prächtige Wetter des Nachmittags ins Freie gelockt hatte, eilten ihren schützenden Behausungen zu und dem ist es wohl zu  verdanken, daß das Unglück keine Menschenopfer forderte. Das ist der einzige Trost in dieser Katastrophe der Windhose des 27. Mai 1916.

    Die Erscheinung machte von weitem den Eindruck eines gewaltigen Brandes. Die Wolke, in der man eine gewaltige aufsteigende Rauchsäule zu erkennen glaubte, hielt sich minutenlang in der Luft auf der gleichen Stelle, während Staub und allerhand Gegenstände, wie zersplitterte Dachbalken, starke Äste von Bäumen, Teile von Dächern, Ziegeln, Leitungsdrähte usw. in einer Höhe von vielleicht hundert Metern wild durcheinander gewirbelt wurden. In nicht zu schneller Bewegung setzte die Windhose ihre Richtung nach Westen, ihre Richtung offenbar in vertikaler Richtung ausübend. Die Spaziergänger, die von der Wettersäule überrascht waren, haben instinktiv das richtige getan, als sie sich mit dem Körper glatt auf die Erde warfen um dem aufsteigenden Luftwirbel eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten.

    Der Verlauf der Windhose.

    Nach den übereinstimmenden Berichten von Augenzeugen setzte die Windhose am Westabhange des Kaßberges ein, hier wurden zunächst nur Fensterscheiben zertrümmert und Bäume stark beschädigt. Mit umso größerer Gewalt wütete sie am Schloßteiche. Das Glasdach über dem Lokomotivbau der Sächsischen Maschinenfabrik wurde fortgefegt und eine umfangreiche Anpflanzung von prächtigen Rot- und Weißdornen, die gerade in voller Blüte stand und eine Zierde der Gegend bildete, wurde umgefegt; wie hingemäht lagen die Bäume an der Straße entlang. Ungeheure Verwüstungen wurden in den herrlichen Schloßteichanlagen, dem Juwel von Chemnitz, angerichtet. Der reizvolle Anziehungspunkt für Fremde und der Erholungsort für die Chemnitzer wurde derartig verwüstet, daß es ein Menschenleben dauern wird, ehe die Natur den Schaden ausgeglichen haben wird. In den herrlichen Anlagen, von der Insel bis zur Müllerstraße, wurden riesige alte, sturmerprobte Baumriesen entwurzelt, zersplittert, wie Streichhölzer umgeknickt oder der Kronen beraubt. Das Herz könnte einem bluten, wenn man sieht, wie in wenigen Minuten die Pracht der Anlagen vernichtet wurde. Wüst und wirr lagen die Bäume und Baumriesen durcheinander, der schöne schattige Garten des Schloßteich-Restaurants glich einem Trümmerfelde, er war übersät von umgerissenen Bäumen, herabgerissenen Ästen, umgestürzten Lichtmasten und einem Durcheinander von Tischen und Stühlen, während das Gebäude weniger Beschädigungen aufwies, obwohl es den Eindruck machte, daß es unter Baumen begraben sei. Die Spaziergänger, die sich am Schloßteich befanden, gerieten, soweit sie kein schützendes Dach mehr erreichen konnten, in eine unangenehme Situation. Sie mussten sich, um nicht von der Riesenkraft der Windhose fortgeführt zu werden, einfach glatt auf den Erdboden werfen oder an den Bäumen festhalten, so wurden sie vielfach unter Bäumen und Ästen begraben, aber Menschenleben sind erfreulicherweise nicht zu beklagen, nur einige Verletzungen sind zu verzeichnen. Die Gondelfahrer hatten glücklicherweise bereits beim Herannahen des Unwetters die Kähne verlassen, sonst wäre hier ein Unglück unvermeidlich gewesen. Eine Gondel wurde von der Windhose vom Teiche emporgehoben und an einem Baume zerschellt. Vom Schloßteiche warf sich der Wirbelwind auf das Städtische Elektrizitätswerk. Das Kupferdach wurde zum dritten Teile abgerissen, die riesigen Kupferplatten wurden wie Papierfetzen durch die Luft gewirbelt und zerknüllt und zusammengeballt fand man die einzelnen Stücke über die ganze Umgebung verstreut; zwei große Platten wurden beispielsweise in einem Bauhofe an der Mathildenstraße, über 700 m entfernt, wieder aufgefunden. Ein Wasserturm der Kühlanlage wurde eingerissen und viele Oberlichtfenster eingeschlagen. Durch eindringende Wasser wurde der Betrieb gestört und es entstand Kurzschluß. Der Schaden am städtischen Elektrizitätswerke wird auf über 150.000 Mk. berechnet, die Verwüstungen in den städtischen Anlagen, wie Schloßteich usw. belaufen sich auf über 17.000 Mk.

    Die Sächsische Webstuhlfabrik hat ebenfalls schwer gelitten, fast alle Gebäude dieser großen Anlagen wurden ihrer Dächer beraubt, Holz- und Wellblechdächer wurden mit Leichtigkeit abgehoben und fortgeführt. Unzählige Fenster sind zerschlagen worden. Vom Elektrizitätswerke aus nahm die Windhose ihren Weg nach Furth, wobei in der Haubold-, Mathilden-, Wilhelm-, Blankenauer- und Furtherstraße sowie auf dem Zöllnerplatze an zahlreichen Gebäuden großer Schaden angerichtet und etwa 80 Bäume und viele Laternen umgerissen wurden. In der Blankenauerstraße wurde das Dach des dort vor einigen Jahren errichteten Molkereigebäudes der Buttergroßhandlung von Johannes Hug glatt abgehoben und fortgeführt, ferner wurden zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert, so daß die ganze Anlage den Eindruck einer riesigen Brandruine macht.

    Die Holzhandlung von Grau und Heidel

    Die großen Schuppenanlagen der Schlesischen Nutzholzhandlung von Grau & Heidel sind teilweise eingestürzt und bilden einen Trümmerhaufen; von der Villa wurde das Dach abgedeckt. Die umfangreichen Holzträger wurden durcheinandergewirbelt und im weiten Umkreise in der Umgebung zerstreut. Die Firma Hug schätzt den ihr erwachsenen Schaden auf 15 – 18.000 Mark und die Firma Grau & Heidel auf 18 bis 20.000 Mark.

    Am allerschlimmsten mitgenommen wurde das bekannte Vergnügungslokal „Tiergarten Scheibe“. Die riesigen Bäume des schönen schattigen Gartens liegen abgeschlagen am Boden. Zwischen dem Gewirr von Baumkronen, Zweigen, und Bretterplanken liegt das große Kupferdach des Musikpavillons, ferner die Steine einer Esse, die im Nachbargrundstücke umgeweht wurde. Das Dach ist fast völlig abgedeckt, alle Fensterscheiben sind zertrümmert. Eine Wohnung in einem Hinterhause mußte geräumt werden; ein glücklicherweise unbewohntes Gebäude, das der Scheibe gegenüberstand, wurde bis auf die Umfassungsmauern zerstört. Die Verwüstungen sind unbeschreiblich, der Schaden wird auf über 100.000 Mark geschätzt. Die Möbelstoff-Fabrik von Cammann & Co., die Otto’sche Ziegelei und das Vater’sche Gut wurden weiter von der Wucht der Windhose stark verwüstet. Das Fritzsching’sche Gut ist von der Windhose am schwersten mitbetroffen, das ganze Anwesen macht den Eindruck eines Trümmerfeldes, aus dem nur noch das einigermaßen erhaltene Hauptgebäude emporragt. Die prächtige Obstplantage sowie die Saatfelder wurden ebenfalls verwüstet. Der Schaden wird von dem Besitzer auf über 50.000 Mark angegeben.

    Der Außenbahnhof in Furth war das letzte Angriffsobjekt der Windhose. Hier wurden die Dächer der beiden Heizhäuser abgedeckt und auch sonst schwerer Schaden angerichtet. Mehrere Heizhausarbeiter erlitten durch umherfliegende Glassplitter Verletzungen.

    Der gesamte durch die Windhose angerichtete Materialschaden in Chemnitz, dürfte sich auf 1.500.000 bis 2.000.000 Mk. belaufen. Dankbar müssen wir aber dennoch dem Himmel sein, daß, abgesehen von einigen Verletzungen, kein Menschenleben bei der furchtbaren Katastrophe zu beklagen ist. Die vorstehende sachliche Schilderung über den Verlauf der Windhose erhält durch zahlreiche Originalaufnahmen, die unmittelbar nach dem Unglück aufgenommen wurden, dauernden geschichtlichen Wert.

    Hoffen wir, daß uns eine solche Unwetterkatastrophe nicht noch einmal trifft.

    (Quelle: Die Windhose von Chemnitz 1916, Bericht in den Dresdner Neuesten Nachrichten 30.05.1916, Postkarten aus der Sammlung von Steffi Weibrecht)