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Reichels Neue Welt

    Wo sich heute die Straßenbahnendstelle und Überfahrt der Citybahn nach Stollberg in Altchemnitz befindet, stand bis 1945 das Restaurant und Vergnügungslokal „Reichels Neue Welt“.
    Ein Rückblick auf dieses bekannte „Concert-Etablissement“ und Ausflugsziel im bereits 1894 einverleibten Vorort.

    Bereits seit 1696 bestand zwischen Leipzig und Annaberg die erste Postkutschenverbindung in unserer Gegend. An der Chausee und gleichzeitig Poststrasse zwischen Chemnitz und Annaberg entstanden ab dem 17.Jahrhundert verschiedene Einkehrstätten. Ursprünglich waren es Huf-und Wagenschmiede, die auf den vielbenutzten Einfall- und Durchfahrtsstraßen den Bauern, Handwerkern und Händlern vom Lande Gelegenheit gaben, nicht nur ihre Wagen, die auf den holprigen Wegen oft Schaden nahmen, auszubessern zu lassen, sondern auch den in Chemnitz Weilenden Nachtunterkunft und leibliche Stärkung gewährten. So entstand aus dem Beherbergen Fremder eine Erwerbsquelle, aus einer Schmiede ein Fuhrmannsgasthof. Eine Ausspanne zum Unterstellen der Pferde mit Möglichkeit der Übernachtung für die oft beschwerlichen, mehrtätigen Reisen durch unser Land. Und die Kutscher und Reiter dankten es den Wirten in den sogenannten Kutscherstuben.

    So muss es auch bei dieser Lokalität gewesen sein.
    Eine Brücke gab es damals an dieser Stelle noch nicht. In einer Furt musste man langsam die Zwönitz durchqueren.
    Schon 1684 wurde das Bauerngut erstmals erwähnt. Um 1850 betreibt der Besitzer Lorenz bereits eine eigene kleine Gasanstalt. Damit erleuchtete er sein Haus und eine Straßenlaterne vor dem „Gasthaus zur Linde“, wie die Lokalität damals noch hieß.
    Von der ehemaligen „Maischänke“ (ein Hufschmied, auch noch 1877 auf dem Areal an der Annaberger Straße vorhanden) erwirbt man 1869 die Schank- und Tanzgerechtigkeit. Eine Konzession, die zur Abhaltung öffentlicher Tanzmusiken, Konzerten, Bällen und Theateraufführungen berechtigte.
    1877 finden wir den Wirt August Herrmann Müller als Schankwirt verzeichnet, ab Anfang 1890 übernimmt dann ein Anton Herrmann das Gasthaus.

    Mit der Einverleibung von Altchemnitz am 1.Oktober 1894 wird die Nummerierung der Annaberger Straße erweitert. Das frühere Altchemnitzer Grundstück Annaberger Straße 120 erhält die Nummer 294, direkt an der Grenze zu Harthau.

    Annonce aus dem Jahr 1901

    1898 übernimmt Herr Bruno Reichel die historische „Lindenschänke” und beginnt den Ausbau zu einem der größten und schönsten Restaurants in unserer Gegend.
    Neugegründete Altchemnitzer Vereine nutzen es als Vereinslokal, ab 1898 z. Bsp. der Radfahrclub „Wanderer” Altchemnitz.

    Mit der Eröffnung der Straßenbahnlinie nach Altchemnitz am 26.11.1899 werden seine neuen Gäste direkt bis zur Haustür „chauffiert”. Ein Glücksfall für das Haus.

    Auf der anderen Seite ist zudem Altchemnitz seit 1895 auch an das Eisenbahnnetz angeschlossen. An der Station Niederharthau halten die Züge auf der Chemnitz-Stollberger Linie.

    Ab 1900 gibt es dann „Reichels Neue Welt” und wird zum Begriff unter den Ausflugszielen in der nahen großstädtischen Umgebung, neben dem „Waldschlößchen in Hilbersdorf“, dem „Wind“ auf der Stollberger Straße, der „Jagdschänke“, und der „Pelzmühle“ in Siegmar. Um nur Einige zu nennen.
    Es entsteht ein großer Festsaal mit Wintergarten, eine palmengesäumte Märchengruppe wird zum zentralen Mittelpunkt und Werbeobjekt. Ein großer Garten mit Tee-/Kaffeepavillon, Bühne und Spielplatz sorgen für die Unterhaltung der Wanderer, Radler und Ausflügler an den wärmen Tagen des Jahres.

    Freud und Leid treffen manchmal kurz hintereinander auf eine Familie.

    Mit dem Besuch des sächsischen Königs Friedrich August am 3.März 1905 erlebt Reichel in seiner „Neuen Welt“ den Höhepunkt. Bei einer Pause auf dem Weg zur Besichtigung der Einsiedler Talsperre huldigen in seinem Lokal die örtlichen Vertreter, Vereine und Schulen dem sächsischen Monarchen.

    Kurze Zeit später ist B.Reichel verschwunden. Er ging am 4. April 1905 mit 170 Mark aus dem Hause, um einen Wechsel zu begleichen. Man vermutete ein Verbrechen. Doch am 10.April wurde er in einem Waldstück hinter der Harthauer Ziegelei erhangen von einem Schulknaben gefunden. Was ihm zu diesem Selbstmord bewegte blieb unklar. Fortan führte die Witwe Hedwig Ida Reichel das Restaurant fort.

    Als neuen Höhepunkt veranstaltete sie ab 1907 großzügige Masken- und Kostümbälle mit prächtigen Dekorationen. Der 1. Weltkrieg bringt Not und Elend, an einen geregelten Restaurantbetrieb ist nicht zu denken.

    Sie richtet in Ihren Räumen ein Lazarett ein, auch wird das Gasthaus als Rekruten-Depot (Sammelpunkt für Kriegsfreiwillige) genannt. Sie erhält dafür das Ehrenkreuz für freiwillige Wohlfahrtspflege, eine vom Sächsischen König gestiftete Anerkennung von Verdiensten auf dem Gebiet der freiwilligen Krankenpflege.

    Nach dem 1.Weltkrieg wird der Restaurantbetrieb wieder aufgenommen.
    Hedwig Reichel stand in einem guten Verhältnis zur Katholischen Gemeinde St. Antonius auf der Erfenschlager Straße. Sie stellt Räumlichkeiten für Vorträge und Festlichkeiten der Gemeinde zur Verfügung, auch wurden Gottesdienste während der Bauzeit der Kirche in Ihrem Haus durchgeführt.

    Aufnahme aus den 30er Jahren, bereits seit 1911 hielt auch der Bus nach Annaberg vor dem Haus


    Am 14.3 1935 vernichtet ein Großbrand einen Teil des Anwesens an der 1934 zur Reichstraße Nr.95 hochgestuften Annaberger Str.

    „Morgens 6 Uhr brach ein Feuer aus. Bei Ankunft der Feuerwehr stand ein Obergeschoß in hellen Flammen und das Feuer war bereits nach dem darunterliegenden großen Festsaal durchgebrochen. Durch die im Saal angebrachte Dekoration übertrug sich der Brand noch auf verschiedene andere Stellen, z.Bsp. den Ausschank. Durch das tatkräftige Eingreifen der Feuerwehr gelang es den Brand auf seinen Herd zu beschränken. Der entstandene Schaden ist ziemlich bedeutend.“ (Riesaer Tageblatt 16.03.1935)

    Nach dem Wiederaufbau finden 1937 auch wieder Großveranstaltungen statt, so die Erzgebirgische Fosend (erzgeb. für Fastnacht) u.a.

    Bis zum Ende des 2. Weltkrieges führt Hedwig Reichel das Haus. Da man schon lange nichts mehr zu feiern hat, wird es als Unterkunft für Flüchtlinge genutzt.

    Am 5.März 1945 schließlich die vollständige Zerstörung durch Brandbomben.
    Ende der 1950er Jahre wird an dieser Stelle die Wendestelle der Straßenbahn Linie 5 errichtet und am 8.Mai 1960 feierlich eröffnet.

    (Quellen: Adressbücher der Stadt Chemnitz und div. Tageszeitungen zu finden unter SLUB-Dresden.de)