Ein frühes Zeugnis politischer Gewalt in Chemnitz.
Was war geschehen: Für den 17. November 1925 hatte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, Ortsgruppe Chemnitz, eine öffentliche Versammlung nach dem bekannten Ballhaus „Marmorpalast“ einberufen, in der Dr. Joseph Goebbels (Elberfeld), über das Thema: „Lenin oder Hitler?“ sprach. 2.500 Versammlungsteilnehmer waren nach Altendorf aufgebrochen.
Es folgt der Originalbericht aus der „Sächsischen Dorfzeitung“ – Ausgabe vom 21. November 1925 zu den Vorgängen:
Wie alle Industriezentren ist auch Chemnitz in politischer Beziehung ein äußerst heißer Boden. Die Gemüter erhitzen sich an äußerlich durchaus geringfügigen Erscheinungen und Ereignissen; die Meinungen platzen aufeinander und aus dem Streite der Meinungen wird leicht ein „Kampf der Geister“, der in sehr geistesarmer und völlig unlogischer Form mit den Fäusten oder mit den Knüppel ausgetragen wird. Man hat seit dem 9. November 1918 in dieser Hinsicht sich schon an manches gewöhnt, was früher zu den Ausnahmeerscheinungen gehörte. Was aber die Kommunisten in der Nacht zum Bußtage an politischer Unduldsamkeit des Gegners und an brutalem, völlig vom Zaune gebrochenen Terror hier in Chemnitz sich geleistet haben, geht schließlich doch über die Hutschnur.
Für mich bleibt lediglich der persönliche Eindruck von der „Schlacht im Marmorpalast“ nachzutragen. Er ist einer der widerlichsten, die ich jemals im „Streite der Meinungen“ erlebt habe, die mit Brachialgewalt ausgefochten worden sind. Soviel ist sicher: Der Überfall der Versammlung der nationalsozialistischen Arbeiterpartei durch die Kommunisten war planmäßig vorbereitet. Zwar gehört es zur Versammlungstaktik der Linksparteien, daß die bedeutenderen gegnerischen Versammlungen von Trupps der eigenen Parteimitglieder in der Weise besucht werden, daß man die vorderen Reihen an sich reißt. Darin also, daß die Kommunisten diese Taktik befolgten und sie auch auf die Galerieplätze rechts und links oberhalb des Rednerpodiums ausdehnten, liegt nichts Außergewöhnliches, ebenso wenig in dem Umstande, daß sie die Versammlung der Nationalsozialisten überhaupt in dieser geschlossenen Form besuchen. Das Thema hieß: „Lenin oder Hitler“ und war demnach wohl dazu angetan, die hier sehr starke kommunistische Partei auf den Plan zu rufen.
Das von Dr. Goebbels (Elberfeld) gehaltene Referat konnte auch unter geringfügigen Störungen zu Ende geführt werden. Dafür hatten die Kommunisten aber gleich sechs Redner in die Liste eintragen lassen. Mich dünkt, die Nationalsozialisten haben noch nicht genügend Routine in der der Führung von Rednerlisten, sonst hätte dieser Umstand, der schließlich die äußere Ursache des ganzen Skandales war, gar nicht eintreten können. Oder kennen sie den Brauch noch nicht, sind sie in politischer Beziehung noch zu wenig geschult, um zu wissen, daß bei Anwesenheit einer starken Gegenseite sich sofort einige Redner aus dem eigenen Lager für die Liste vormerken lassen, um so dem Massenansturm von Rednern der Gegnerpartei die Spitze abzubrechen? Nach Dr. Goebbels betrat der Kommunistenführer das Podium, der über eine Stunde sprach, von niemand in seinen wenig interessanten Ausführungen gestört. Mittlerweile war es 12 Uhr nachts geworden. Die Versammlung sollte oder mußte geschlossen werden.
Diesen vom Versammlungsleiter verkündeten Schluß beantworteten die Kommunisten mit dem Anstimmen der „Internationale“, worauf die Nationalsozialisten das „Hitlerlied“ anstimmten. Da – ein Pfiff und einige Kommandoworte und von der Galerie flogen, von den Kommunisten geworfen, Biergläser, Stühle, ja sogar Tische mitten unter die im Parterre Versammelten. Die Lampen wurden größtenteils zerschlagen, um den Saal zu verdunkeln, auch auf den Kronleuchter wurden Wurfgeschosse in Masse gerichtet, um den gleichen Zweck zu erreichen. Unten im Saale tobte ein wüster Kampf und in wenigen Augenblicken bot der Marmorpalast ein Bild mit wüstester Zerstörung. Gegen 100 Tische und etwa 800 Stühle sind zerschlagen worden, 1000 Biergläser und 350 Kaffeetassen gingen als Wurfgeschosse in Trümmer und 40, zum Teil schwer Verletzte, darunter zwei Polizeibeamte, waren die Opfer des sinnlosen Kampfes.
Das Gros der Kommunisten suchte nach dieser „Heldentat“ sein Heil in der Flucht. Sie führte über die Gärten, deren Zäune demoliert wurden und durch den gar nicht sehr seichten Bach hinter diesen Gärten. Immerhin gelang es, eine Anzahl der kommunistischen Rädelsführer zu verhaften, bei denen Dolche, Revolver und Gummiknüppel gefunden wurden – ein weiteres Zeichen dafür, daß der hinterlistige Überfall nicht spontan erfolgt ist, sondern planmäßig vorbereitet wurde. Wie ich höre, ist einer der Schwerverletzten am Bußtage seinen Verletzungen erlegen. Man kann die Polizei nicht ganz freisprechen von dem Vorwurfe, es an den nötigem Vorsichtsmaßnahmen mangeln gelassen zu haben. Durch einen Beamten der Saalpolizei war das Polizeikommando schon gegen 8 Uhr von der Gefahr eines Zusammenstoßes benachrichtigt worden. Es rückte auch ein starkes Überfallkommando aus aber nicht bis zum Marmorpalast, sondern nur bis zur Polizeiwache in der Kochstraße. Als dieses Überfallkommando dann etwa 10 Minuten nach 12 Uhr auf dem Kampfplatze erschien, war das Innere des Marmorpalastsaales schon ein Trümmerfeld. Ein starkes Polizeiaufgebot im Saale gleich zu Beginn der Versammlung hätte wohl die Rauflust und die Terrorwut der Kommunisten erheblich herabgemindert, vielleicht sogar gänzlich niedergedämpft. Lassen wir den Vorhang über dieses hässliche, abscheuerregende Bild fallen.
Soweit der Redakteur…
Fazit der Veranstaltung: Neben den bereits erwähnten „Kleinteilen“ wurden sämtliche Leuchter sowie nahezu alle bleiverglasten Fensterscheiben des großen Saals zertrümmert oder beschädigt. Der Wirt und Besitzer Ernst Böhm bezifferte seinen durch die Versicherung nicht gedeckten Schaden auf rund 15.000 Mark. Einer der schließlich 75 Verletzten, der 42jährige Eisendreher Hans Schneider, starb am folgenden Tag im Stadtkrankenhaus.
Zur Erinnerung an diese Saalschlacht wurde 1934 vom damaligen Besitzer dieser Gaststätte, Böhm war auch bekennender Nationalsozialist, eine Gedenktafel aus Muschelkalk angebracht. Im Jahr 1935 fand anlässlich des zehnjährigen Jahrestags ein Gedenkabend in Anwesenheit des Innenministers Dr. Fritsch und anderer Personen im gleichen Saal statt.
Der Marmorpalast, einer der bekanntesten und beliebtesten Chemnitzer Vergnügungslokale, soll später Gegenstand eines eigenen Artikels werden.
Quellen: Türmer von Chemnitz Heft 11/1935; Sächsische Dorfzeitung vom 21. November 1925; andere Artikel sächsische Tageszeitungen zu finden unter SLUB-Dresden.de