Über die Zustände der Chemnitzer Gasthöfe im ausgehenden 18.Jahrhundert gibt eine Schmähschrift „Dämonion oder Reich des Lasters und der Torheit“, die 1798 in Chemnitz erschien, Auskunft.
Dort heißt es in Auszügen: „Bekanntlich sind die Gasthöfe in Chemnitz in so schlechtem Zustande, daß es unmöglich ist, lange in selbigen zu bleiben — es gereicht Chemnitz zu keinem geringen Vorwurf bei Auswärtigen, daß so ein Ort, welcher wegen der durchgehenden Poststraßen von vielen Reisenden so häufig besucht wird, fast nicht eine einzige Auberge hat, wo man Aufnahme und Bequemlichkeit finden kann“. Das scharfe Urteil war ein Widerhall allgemeiner Klagen über Mißstände im Gasthofswesen.
Chemnitz besaß 1798 bei 10.000 Einwohnern 5 Gasthöfe, davon war nur ein einziger, der „Zum drei Schwanen“, seit alters zur Aufnahme besserer Reisender eingerichtet, die Übrigen hielten sich für Fuhrleute und durchziehende Handwerker offen. Aber 1789 hatte der Besitzer verkauft und seitdem wurde die Wirtschaft von Jahr zu Jahr schlechter. „Der Gasthof ‚zum drei Schwanen‘ ist in Ansehung seiner Bequemlichkeit noch der beste, ob er gleich kaum 5 oder 6 Stuben enthält, die überdies nicht sehr einladend sind. Speise und Trank sind nicht teuer, aber so schlecht, daß sie für einen Reinlichkeit und Ordnung liebenden Menschen fast ungenießbar sind. Die Wirtin – Steidel mit Namen – eine Fleischmasse – kümmert sich wenig um die Wirtschaft. Wenn sie ihren übermäßigen Durst und ihre fleischlichen Begierden befriedigen kann, so glaubt sie. alles getan zu haben.“
Ganz im Einklang mit dieser Klage im ‚Dämonion‘ urteilte das Ratskollegium: „Die Witwe des letzten Besitzers treibt so schlechte Wirtschaft, daß nur im allerhöchsten Notfalle allda jemand einkehrt und übernachtet, nur wenn er unmöglich anderwärts unterkommen oder einen anderen Ort erreichen kann. Von Jahr zu Jahr ist das Gasthaus an Gebäuden, Meublement und Bewirtung gänzlich in Verfall geraten. Zwar haben bei solchen Mißständen die Besitzer des ‚Weißen Rosses‘ und ‚Roten Hirsches‘ versucht, sich außer für Fuhrleute und für Reisende und Herrschaften einzurichten und der Wirt vom ‚Weißen Roß‘ z.Bsp. hat 2 Zimmer zur Beherbergung distinguierter Reisender eingebaut, aber in beiden Gasthäusern ist und bleibt die Bewirtung mit Speise und Trank mangelhaft.“
Weiter wird beschrieben: „Der Platz ist bei dem starken Fuhrwerksverkehr in der Stadt viel zu beschränkt, ganz abgesehen davon, daß sämtliche Gasthöfe der Lange Straße, das ‚Weiße Roß‘, der ‚Weiße Bock‘, ‚Roter Hirsch‘ und ‚zu den Drei Schwanen‘, Tag und Nacht mit Fracht- und Fuhrleuten, Wagen, Pferden, Geschirren angefüllt sind, daß ein unaufhörlicher Lärm herrscht und deshalb Reisende, um ihre Nachtruhe und Bequemlichkeit zu finden, lieber in Nachbarorten ihr Quartier suchen, z. B. im Gasthof Wiesa mit seinen schönen Zimmern und der guten Verpflegung. Leider geht dadurch der Stadt viel ‚Nahrung‘ verloren. Lediglich zur Beherbergung von Fracht- und Fuhrleuten und gemeinen Fußgängern dienen der ‚Weiße Bock‘ und der ‚Schwarze Bär‘ in der Stadt, und in den Vorstädten der ‚Goldene Stern‘ und die ‚Goldene Sonne‘. Im ‚Lindwurm‘ wohnt der nach Dresden fahrende Bote zur Miete und auch die anderen Räume sind vermietet. Beherbergung und Gastierung gibt es nicht. Häuser endlich, auf denen Gasthofsgerechtigkeit ruht, sind längst von ihren Besitzern zum Betrieb ihrer ‚fahrenden Grosso-Fabrique- Handlungen aptirett‘. (zurecht gemacht).“
Wiederholt mußte der Rat von Obrigkeitswegen für die Unterbringung hoher reisender Herrschaften Sorge tragen, wiederholt forderte er die Wirtin ‚zum drei Schwanen‘ auf, besser für Bewirtung und Beherbergung zu sorgen, sich der Reinlichkeit zu befleißigen oder aber zu verkaufen – alles umsonst. So war schließlich der allgemeine Wunsch und das dringende Bedürfnis vorhanden, „daß bei hiesiger Stadt ein neues Gastierungshaus etabliert werde, woselbst nicht nur fremde Durchreisende, besonders distinguierte Personen gehörig bewirtet, sondern auch hiesige unverehelichte und keine eigene Haushaltung führende Personen vom Militär- und Zivilstande gespeist werden können, welche über den Mangel an guter Gastierung allhier laute Klage führen“.
Freudig begrüßte daher der Rat die Absicht des Kaufmanns Johann Paul Naumann, das „Etablissement eines neuen Gasthofes allhier zu gründen“, den ‚Blauen Engel‘, wie er heißen sollte, am Markte an der Bach, einen Gasthof, der ausschließlich bestimmt sei für „durchreisende Passagiere und distinguierte Personen und Herrschaften, nicht für Fracht- und Fuhrleute, und vor dem jederzeit die öffentliche Passage frei und nicht durch Ausstellung der Equipagen der einkehrenden Herrschaften verstellt sein sollte.“ Und eifrig unterstützte der Rat das Gesuch Naumanns bei der Regierung, hatte er doch selber unverschuldeter Weise so viel Klagen anhören müssen und mußte doch die Neugründung für jeden Bürger, dem an dem guten Ruf der Stadt liege, nur angenehm und willkommen sein.
Indes von einer Seite wurde gegen Naumanns Plan der heftigste Widerspruch laut. Die Gasthofbesitzer wandten sich in einer geharnischten Eingabe an den König und Kurfürsten: „Chemnitz hat mehr als genug Gasthöfe, nicht weniger als 5 in der Stadt und 2 in den Vorstädten. Wenn die Bewirtung nicht genügt, liegt es wohl mehr an der Einbildung der Reisenden, und wenn es an Reinlichkeit fehlt, ist ja der Fremde nicht gezwungen, dort wieder einzukehren. Aber Naumann will alle Chemnitzer Gasthöfe schwarz machen, um der Farbe seines neuen ‚Blauen Engels‘ einen umso höheren Anstrich zu geben und dem Nahrungszweig der anderen Wirte den Garaus zu machen…“
Die Beschwerden der Gasthofbesitzer blieben erfolglos. Am 3. Juni 1799 erhielt Naumann für den „Blauen Engel“ die Gasthofsgerechtigkeit. Diese vereinigte das Gästesetzen, die Beherbergungs- und Ausspannungsbefugnis, unterschied sich damit von der bloßen Schankgerechtigkeit.
Der „Blaue Engel“, postalisch seit 1859 Markt 7, an der Ecke zur damaligen Bachgasse, galt längere Zeit neben dem „Römischen Kaiser“ als eines der feinsten Häuser unserer Stadt. Seine Errichtung wurde damals als ein Zeichen des zunehmenden Verkehrs und Wohlstandes unserer Stadt betrachtet.
Prominentester Gast war der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), als er 1810 Chemnitz besuchte. Am 28. September bestieg er in Dresden mit seinem Sekretär Prof. Friedrich W. Riemer, Physiker Thomas Seebeck und Kammerdiener die Linienkutsche, fuhr über Freiberg, Oederan zum Chemnitzer Tor herein bis zur Posthalterei auf dem Roßmarkt. Im „Blauer Engel“, damaliger Wirt war Johann Friedrich Esche, stärkten sie sich bei einem Mittagessen, tranken drei Flaschen Burgunder-Rotwein und zwei Flaschen Schwarzbier, bevor die Gruppe „nach Tische“ eine Kutsche gen Klaffenbach bestieg. Ziel die moderne Bernhard‘sche Spinnerei in Harthau. Darauf hatte Goethe laut Tagebuch bestanden, er wollte die „Wunder der Technik“ sehen. Abends kehrten sie in den „Blauen Engel“ zurück und sinnierten in einer Runde gemeinsam über Fragen der Literatur. Am Morgen trank der Dichter einen Kaffee, bezahlte für Übernachtung und Bewirtung zehn Reichstaler und acht Groschen, bevor ihn eine Kutsche Richtung Penig brachte.
Kretzschmar nennt in seiner Stadtbeschreibung 1822 Louis Gottschald als Gastwirt des „Blaue Engel“, auch 1838 Wirt dieser im 1. Chemnitzer Adressbuch genannt. Nachdem dieser um 1845 verstarb, führte die Witwe Auguste als Besitzerin das Hotel fort, ehe Ende 1863 Christian Alban Ed. Diesel das Haus als Pächter übernahm. Bis 1872, das Gebäude war mittlerweile in den Besitz der Familie Ernst Louis Gottschald, in Dresden wohnend, übergegangen. Ab da pachtete ein Hr.Weidmann das Hotel, nur kurz, wie man es in den Adressbüchern nachverfolgen kann. Noch 1873 erfolgte der Verkauf des Hauses an den Kaufmann Abraham Dresel, der im Haus ein Manufaktur- und Weißwarengeschäft eröffnete. Das Ende der Hotelerie. Die nächsten 25 Jahre wird es als Geschäftshaus kontinuierlich erweitert. So beginnt auch die später mit imposanten Geschäftshäusern am Roßmarkt und an der Poststraße/Ecke Inneren Johannisstraße beeindruckende Firma Gebrüder Wertheimer ihre geschäftliche Tätigkeit 1889 in diesem Haus. Gegenüber des Gebäudes entsteht in dieser Zeit auch das neue Geschäftshaus der Adler-Apotheke.
1898 wurde das Haus von einem Berliner Konsortium, bestehend aus Regierungsbaumeister Dörpfeld, Rechtsanwalt Dr. Haase und Bankier Blumenfeld angekauft, mit der Absicht, entsprechend der Lage des Grundstückes einen großartigen, den neuesten Anforderungen entsprechenden Neubau zu errichten. Im August 1899 wurde ein Antrag für den Neubau „Blauer Engel“ am Markt/ Ecke Kronenstraße, wie die Bachgasse ab 1895 hieß, gestellt. Nach erteilter Baugenehmigung erfolgte unmittelbar der Abriss. Die Fertigstellung des Neubaus und die Genehmigung der Ingebrauchnahme wurde Ende August 1900 angezeigt. Im Mai 1901 wurde das Anbringen des Namens „Kaiser Café“, als neuer Nutzer, über dem Hauseingang und den Fenstern beantragt. Noch bis 1945 stand das sehenswerte und imposante Geschäftshaus an dieser Ecke des Marktes. Schon damals erinnerte nichts mehr an den alten „Blauen Engel“.
(Quellen: Mitteilungen des Vereins für Chemnitzer Geschichte Band 15 (1908-1912) S.81 ff; Beitrag „Geschichte der Gasthöfe“ in Chemnitzer Neueste Nachrichten, 25./31.August 1928; Adressbücher der Stadt Chemnitz und div. Zeitungsausschnitte, zu finden unter SLUB-Dresden.de; u.a.)