Muß Krieg sein, wenn alle Menschen Menschen wären.
Schon beginnt es zu verblassen im Gedächtnis, und nicht, um das erlebte Grauen noch einmal heraufzubeschwören, sondern zur Ehre Gottes, der uns so treu und väterlich auf Schritt und Tritt geführt, will ich die Nacht des Schreckens zeichnen.
Wir waren das Rennen schon gewöhnt, zwischen den Alarmen, und auch diesen Montag gab es in der 10ten Stunde Alarm. Gott sei Dank, wir kamen noch heim von unseren Kranken. Schnell so viel wie möglich in den Keller geschleppt. Die Flieger sind schon da, surrend überfliegen sie uns, in großen Scharen, und das Krachen der Bombeneinschläge ließ uns erzittern. – und wir durften wieder hinauf! Dankbar zog nun die ganze Hausgemeinde, Groß und Klein die Treppe hinauf, mit allem, was oben wieder gebraucht wurde. Der Sturm blies kalt in unserer schönen Wohnung, wieder Unordnung, zertrümmerte Scheiben, die Balkontür aufgesprengt, das Schloß am Holz herausgerissen u.v.m. Unverdrossen gings nun wieder ans Aufräumen und zunageln. Und am Abend war es geschafft, es war wieder Ordnung bei uns und unseren Flüchtlingen, wir hatten an diesem Tage 5. Nun hatten wir noch Kranke versorgt, und hatten Abendbrot gegessen, solch guten Pudding mit Stachelbeeren, und ich bin wieder über den Aufwasch – wieder Alarm!
Wieder gings in den Keller, wir hatten diesmal nicht viel Zeit. Die Feindflieger in großen Scharen und die Einschläge recht schnell und hart aufeinander. Es galt UNS diesmal, alle spürten es, die Hausgemeinde und die Flüchtlinge, die jeder im Haus beherbergte. Die Kinder waren an diesem Abend sehr still, sonst hatte Christinchen, die bei Alarmen meist als ein weinendes, jammerndes Bündel auf dem Lattenrost kauerte, die andern alle angesteckt, heute waren alle still. Herr Zeumer, der sonst immer so unbesorgte, auch er duckte sich mit in unserem Luftschutzkeller. Die eiserne Tür vorn war geschlossen, längst war unser schönes elektr. Licht verlöscht.
Und draußen gings weiter, die heulende Jagd, Krachen und Bersten, der Fußboden zitterte, der Luftdruck pfiff über unsere Köpfe hinweg. Wir fühlten, das Haus über uns wurde gesprengt. Wir hörten den leichten Aufschlag der Stabbrandbombe. Du grausamer Krieg! – Es wurde stiller. Die Männer gingen nachsehen, sie kamen zurück, hier müssen wir raus – alles brennt! Frau Hütter reicht mir zwei Frottiertücher, ganz mechanisch mache ich sie in einer Wassertonne naß und bringe sie zurück. – Dann den Rucksack herunter, die Gasmaske aufgesetzt, ich will löschen. Da verstopft sich der Eingang, Flüchtlinge wollen ihre Habseligkeiten hinunterwürgen, von hinten wollen die Anderen nach dem Ausgang. Es ist Unruhe und Durcheinander. Ich renne die Treppe hinauf, ob man nicht löschen kann, so viel Wasser überall und die Spritzen in Ordnung.
Die Treppen stehen noch, doch in die Wohnungen kann man nicht mehr, kein Halt, man tritt durch, und das blaue Phosphorfeuer kommt überall geflossen, Qualm und Hitze, Feuerbrocken fliegen einen an. Ich eile in den Keller zurück, da sind inzwischen alle fort, das Lichtlein verlischt, im Dunkeln finde ich meinen Rucksack und fort geht es. Das ganze Gerichtsviertel von der Gartenseite nur Flammen. Ein Schneesturm, der die Gluten zischen heißt, bis Knöchelhöhe Schneepatsche. Das Stadtbild unbeschreiblich, schaurig, schön! Nur Flammen.
Ein Posten heißt uns an der Litfaßsäule sammeln. Dort treffe ich Schw. Bertha wieder und bin recht dankbar. – Weiter, weiter heißt es, nach dem Schloßteich zu. Die Glut nimmt zu, der Qualm beißt in die Augen und macht uns Husten. Alles rennt vorwärts, aber das kranke Peterlein und die alte Frl. Anger können nicht mehr. Da nehme ich zu meinem Huckepack und Koffer noch die drei Taschen von Frl. Anger, und Peter Hütter lasse ich einhenkeln, und wir drei machen den Schwanz von der Karawane, die schon einen großen Vorsprung hat. An der Kaßbergauffahrt fluten die Menschen zurück, man kann nicht mehr durch. Die Anderen haben wir nun alle verloren und wurden bis zum Staatsgymnasium zurückgedrängt. Dort gehen wir hinein und finden Schutz und Aufnahme im Keller. Erst müssen wir uns an das armselige Lichtlein gewöhnen, noch tanzen die großen Flammen vor unseren Augen. Endlich ein schützendes Dach über uns. Frl. Anger findet Platz nahe der Tür, und für Peter finde ich einen stabilen Koffer, da setze ich ihn drauf, den Rucksack als Kopfkissen auf die andere Seite. Der arme Junge konnte auch nicht mehr, vor Erschöpfung schläft er schon, den Kopf in meinen Händen. Nach Stunden hatte ich das Glück, einen Bierkasten als Sitzgelegenheit zu erwischen, da hatte ich es auch leichter.
Nun kam das 2. Kapitel der Nacht: Hier war man vom Grauen abgeschlossen. Ein gutmütiger, junger Soldat mit Handverletzung gab sich redlich Mühe, um uns buchstäblich zu bemuttern. Er ging immer wieder durch die Menschen, sprach gut zu, wo er Trostlosigkeit bemerkte, ließ hier und da mal die Sitzgelegenheit wechseln, brachte mal Bier für Durstige, holte die liebreiche Nonne, die stand in ihrer weißen Pracht wie ein Friedensengel in der dunklen Umgebung. Sie reichte für kleine Kinder Milch und brachte getrocknete Früchte mit.
Ihr guten Menschen, die in dieser schweren Nacht in dem Keller so treu euren Dienst tatet, ich werde euch in dankbarem Erinnern behalten. Es tat mal gut, die Ruhe hier unten, man kam mal zum Denken und Danken. Wir sahen alle furchtbar schmutzig aus. Rußgeschwärzt Gesicht und Hände, Mäntel naß und besudelt mit Lehm und Mauerdreck, Schuhe und Strümpfe voll von Lehm, über den wir geklettert waren. Manche klagten über Kleinigkeiten, manche blickten ins Leere, manche schliefen. An großen, schweren Tagen habe ich mich immer stark gefühlt, während so kleine Alltagssachen mir den Mut nehmen. Aber auch hier war es nur ein kurzes Verschnaufen. Die Andrèschule brennt! Nun fluten die Menschen von da in unseren stillen Kellergang. Dann war in irgendeinem Bunker ein Unglück passiert und die Menschen kamen schreiend und haltlos an. Wir wurden alle sehr müde – der Keller ganz voll von Menschen, die Luft verbraucht, das Atmen ging schwer. Unser guter Soldat öffnete eine Sauerstoffbombe, das half für kurze Zeit.
Ich übergab Peter mal andrer Obhut und ging in einen anderen Kellerteil, Herrn Spitzner aufsuchen. Ihm war ein Balken seines Hauses auf den Kopf gefallen, und er lag schwer verletzt da unten, unter den Soldaten des Lazaretts. Ich fühlte, daß rechte Unruhe unter der Belegschaft entstand. Da packte ich meine zwei Aktentaschen mit in meinen braven Rucksack, den Schw. Bertha aus einer Bettdecke genäht hatte, und der alle Strapazen durchgehalten hat, weckte mein Peterlein, der weinte um seine Gasmaske, die verlorengegangen war. Gleich morgen kauf ich dir eine neue, da war er wieder gut. Nun war es stufenweise gegangen, erst wurden die Schutzbrillen gesammelt, dann die Stahlhelme, dann die Gasmasken. Da fragt plötzlich jemand: Hier brennts wohl auch? „Ja“, ist die Antwort. Wir hätten es ja schon längst merken müssen an der Hitze, waren aber doch so erschöpft, und die guten Menschen dort hätten uns sicher am Morgen einen warmen Trunk gegeben. – Nun war es wieder aus, Unruhe wollte entstehen, aber unser guter Soldat wurde sehr energisch.
Niemand darf aufstehen! Wer vorn ist, geht zuerst, daß keiner ertreten wird! Wir waren ja weit vorn, und so zog ich mit Peter aus dem brennenden Hause wieder hinaus in die Feuernacht. Der Morgen graute, aber überall brannte es, man wußte nicht Ziel und Richtung, wohin. Wir wanderten hinter dem Gefängnis durch Stechers Garten und kamen bei der Altluther. Kirche heraus. Auch diese war leergebrannt. Der Torbogen vom Altarplatz steht noch. Hier hält der Heiland noch segnend die Hände ausgebreitet über der armen Menschheit. „Ich lebe! Und ihr sollt auch leben.“ Das war mein Morgengruß nach dieser dunklen Nacht und in diesem Himmelslicht hieß es weiterwandern an des Heilands Hand.
Der 6. März 1945:
Komm, mein Peter, wir gehen nach Altendorf, da treffen wir Schw. Bertha. Das war mein erster Entschluß an diesem Morgen. Mein Handkoffer erschien mir sehr schwer, und der Rucksack drückte mich fast zu Boden. Peter hing in seiner Schwäche schwer an meinem Arm. Wie trostlos sah alles aus. Fußweg und Fahrbahn ein wüstes Durcheinander von Schutt, Stein und Lehm. Die Pfützen alle blau durchzogen vom Phosphor. Die Menschen müde und traurig schleppten sich mit ihren Habseligkeiten ab und suchten Obdach und Fürsorge. Aus manchen Häusern loderten noch die Flammen. Von Altendorf fluteten die Menschen stadteinwärts. Peter heulte, ich kann nicht mehr. Wir beide hatten nur 1 Taschentuch. Immer schleppender wird Peters Schritt. „Komm mein Peter, wir gehn deine Mutti suchen.“ Ich wollte ihn in der Mütterschule unterbringen „nur für kurze Zeit“ bitte ich, bis ich ein Obdach für das erschöpfte Kind habe. Man weißt mich kurz ab und hat kein Erbarmen. Ich gehe zur Westschule und bitte herzlich und dringend „lassen sie das Kind hier, er kann nicht mehr und ich auch nicht“. Auch hier kalte Abfuhr „gehen sie nach Altendorf, dort ist die Obdachlosenstelle.“ Mein Peter kreidebleich, heult, stolpert – es geht nicht mehr. Nimmt mir denn niemand den Koffer ab, oder das kranke Kind. Nein, die armen Menschen haben ja alle nichts mehr, und hoffen alle selber, daß sich jemand erbarme.
Schon war ich ganz verzagt, da kam eine liebe schlichte Frau. Sie schüttet einen Eimer Scherben aus. „Ach liebe Frau, haben sie Erbarmen, nehmen sie mir das Kind eine Stunde ab und lassen sie es sich einmal wärmen. Ich will des Jungen Mutter suchen, oder ein Obdach für uns beide. „Ja gerne“! O Gott, ich danke dir.“ Kaum kann ich es glauben, mein Peter darf sich wärmen. „Wollen sie auch mitkommen“ sagte die gute Frau Bachler. „Nein, danke, ich muß schon sehen, Peters Mutter oder Schwester Bertha zu finden“. Ich stolpere nun weiter nach Altendorf, erschöpft, durstig, dreckig. Die erste Bekannte, der ich begegne ist eine Frau aus unserem Mütterdienst, Frau Müller aus Neukirchen. „Schw. Charlotte“ lieb sagt sie es und umarmt mich. Bald erfahre ich, daß Schw. Bertha in der Nacht auf der Spichernstrasse Halt gemacht hat. Ich eile dort hin.
Die guten Menschen, sie geben mir Wasser zum Waschen und 1 Tasse Kaffee. Schw. Bertha ist weitergegangen nach Rabenstein. Nun geht’s zur Obdachlosenstelle. Der große Schulhof voller Menschen, ins Haus ist kaum hineinzukommen. Alle haben das gleiche Anliegen, alle sind verarmt und heimatlos in einer Nacht, durch die Tücke der Menschen. Ich dringe vor, die Stunde ist bald um, wo ich Peter wieder holen muß. Oder ist die Zeit schon überschritten, ich weiß es nicht. Eine junge Frau sitzt hier, müde und gleichgültig blickt sie über die vielen Menschen. Die ist der Sache nicht gewachsen, die fühlt nicht die Not. Und wie ich mein Anliegen vorbringe, sehe ich meine liebe Frl. Hering sitzen, eine Kranke, die ich immer betreute. Sie hält einen Schuhkarton auf den Knien, ihr ganzer Besitz. Beide empfingen wir das Wiedersehen wie einen Trost. – Auch hier finde ich weder Rat, noch Beistand, noch Hilfe für mich, oder Peter. „Behalten sie den Jungen, wir können ihnen nicht helfen.“ „ich habe ja selbst kein Obdach.“- „Ja, das geht vielen so, es sind in einer Nacht 220.000 Menschen heimatlos geworden.“ ..ich gehe zu der guten Frau Bachler zurück, ohne etwas erreicht zu haben. Und hier sieht es tröstlich aus, wohl ist den guten Leuten die Wohnung stark beschädigt und alles durcheinander. Und trotzdem hat die Frau den Peter gewaschen, in ein gewärmtes Bett gelegt, ihn gespeist und getränkt, sein nasses Zeug am Ofen aufgehängt. Aber es sind schon Flüchtlinge hier, wir müssen wieder fort. Also wandern wir die Weststraße stadtwärts, ob es Morgen ist oder schon Mittag, ich weiß es nicht, ist auch gleich. Peter ist etwas frischer und wenigstens sind wir beide doch gewaschen, schon das ist ein Trost…
Es hilft nichts, wir müssen weiter suchen. Im Staatsgymnasium ist der Brand gelöscht, noch liegt viel Hausrat, Betten und Matratzen auf dem Hof. Sie haben gleich alles aus dem Fenster geworfen. Hier waren sie so gut zu uns in der Nacht, hier versuchen wir es wieder. Im Staatsgymnasium frage ich gleich nach dem Stabsarzt und trage meine Bitte vor. Ein lieber junger Arzt ist es. „Ja, sagt er. Wir behalten das Kind, bis sie die Mutter finden. Ich bin heute früh hinter ihnen hergegangen, da haben sie mir schon leidgetan.“ Er läßt die freundliche Nonne rufen, die Peter in ihre Obhut nimmt. Ich eile nochmal in den Keller, wo die Schwerkranken liegen, und besuche Herrn Spitzner. Noch immer ist er ohne Bewußtsein, aber trotz der vielen Pflichten, die heute auf allen liegen, sitzt hier eine Schwester zur Wache…. Nun sehe ich nochmal nach Frl. Anger, sie friert, sie klagt, in dem Keller sterbe ich, hier kann ich nicht bleiben. „Ja, eine Nacht wird’s schon noch gehen, tröste ich sie, beten sie, Gott kann uns auch für diese Nacht noch eine Bleibe schenken.“ Weiter geht es, ich will Peters Tanten suchen. Gerade will ich die Kaßbergauffahrt überqueren, kommt Hartmut Hütter (Mein Vater!). Groß und froh werden seine Augen, als er mich sieht. „Wo willst du denn hin, Hartmut?“ – „Heim“. Komm mit, heim ist hier nicht mehr. Nun erzählt mir der Junge seine Erlebnisse.
Hartmut hatte die Mutter verloren im Rauch, ist in der Waldleite bei guten Leuten untergekommen, durfte sich wärmen und waschen, wurde gespeist und getränkt und bekam ein Lager. Nun war er auf der Suche nach seinen Leuten. Ja in dieser Terrornacht hat es viele barmherzige Samariter gegeben, die selbstlos und treu ihre Pflicht taten.
Bei den Tanten auf dem Luisenplatz ist die Freude groß, hier finden wir auch Maria und Christine, die auch von der Mutter abgedrängt worden waren. Hartmut sinkt übermüdet auf ein Lager. Tante Liddy und ich ziehen mit zwei Leiterwagen nach der Hohe Straße, um das Wertvollste aus dem Keller vor Diebeshand zu sichern und mein Peterlein endgültig loszuwerden. Kein Alarm und der arbeitsreiche Tag neigt sich, schon wird es dunkel, ich fühle kaum mehr meine Füße, naß bis über die Knöchel und eiskalt, und der Durst ist schlimm. Nirgends läuft Wasser, niemand kann was kochen. Aber mein Herz ist trotzdem froh und getrost, ich habe ja schon Helfer, habe Hütters Kinder beisammen und bei den Tanten untergebracht. Sie nehmen auch noch Frl. Anger auf. Nun wird Peter aus dem Lazarett abgeholt. Er bekommt noch eine dicke Schnitte Butterbrot, und wir scheiden wie Freunde voneinander.
Zwei schwere Handwagen, Frl. Anger, Peter ohne Taschentuch, der weite Weg durch Trümmer, über Geröll, durch Schneepatsche, über schlüpfrige Lehmkrater, wir kamen ans Ziel mit letzter Kraft. Die guten, lieben Schwestern von Frau Hütter, nie werde ich es ihnen vergessen. Nachdem Peter und Frl. Anger versorgt waren, die Wagen abgeladen, galt ihre ganze Fürsorge mir. Ein Bett wurde vom Boden geholt, frisch bezogen, die Strümpfe durfte ich wechseln, und dann aber hinein ins Bettchen. „Hab Dank du lieber Vater mein“ – ein viertel Stündchen wie tot geschlafen, „Alarm“! Schnell in den Keller mit allem Ballast, der uns wertvoll erscheint. Angstvoll horchen wir hinaus, soll es wieder so eine Schreckensnacht werden, mit den paar Stadtteilen, die noch stehen? Hier unten sind die Menschen nervös und überreizt. „Immer kommen Neue, und wir haben selbst keinen Platz sagen sie, und uns Heimatlosen tut das weh. Es dauert wohl kaum eine Stunde. Wir dürfen wieder hinauf. Aber auf der Treppe bricht Frl. Anger zusammen und fällt mir die Treppe hinunter entgegen. Wieder neue Sorgen. Mein Herz klopft eine sorgenvolle Melodie, als ich mich wieder in das schöne weiße Bett wickle. Lange kann ich nicht schlafen, der Sturm heult, Häuser fallen mit großen Krachen zusammen.
Und dann ist der neue Morgen da. Es ist noch dunkel, ich eile zu unserer Ruine. Die beiden Schwachen habe ich untergebracht, nun hab ich nur noch für mich zu sorgen. Bis Mittag hab ich tüchtig im Keller geräumt, es wird immer heißer hier unten. Dann bin ich den weiten Weg nach Rabenstein gelaufen, Schw. Bertha zu suchen. Von Ferne sehe ich das Schieferdach der Villa Barthel. Gott sei Dank, das Haus steht noch. Erschöpft lehne ich am Pfeiler „Ist Schw. Bertha hier“? Freundlich und gütig werde ich aufgenommen. Frau Barthel reicht mir einen Teller kräftiges Essen, Bohnen und Kartoffeln. Nach kurzer Rast eile ich denselben Weg zurück nach Chemnitz. Es dämmerte schon, als ich die Hohe Straße erreiche. Den Berg hinauf fange ich schon an zu rufen „Schw. Bertha“, und mein Herz klopft eine wilde Melodie. Ja, sie kommt mir entgegen, und wir weinen beide. Es ist als lägen Monate dazwischen, seit wir uns getrennt hatten. Wir sind wohl die einzigen Menschen auf der Hohe Str. Nun haben wir uns auf die Bank im Keller Nr. 15 gesetzt und gegenseitig unser Erleben erzählt. Hier unten wollten wir auch schlafen, in unsre Mäntel und alles, was wir noch besaßen, eingehüllt. Aber das Haus hat keine Türen und Fenster mehr. Der kalte Märzwind und Schneegestöber lassen uns frieren, daß wir nur so klappern. Da wandern wir auf der Straße auf und ab. Das Gericht brennt noch, dort wärmen wir uns. Auch in der Stadt lodern hier und da noch Brände. Wie konnte man nur durch solches Grauen unversehrt durchkommen? …
Der schlimme Sturm erhebt sich wieder, der Brand im Gericht wird gefährlich. Die Funken treiben aufs Pfarrhaus zu und gefährden es in hohem Grade. Wir dringen dort ein und tasten uns beim Feuerschein durch das Chaos des beschädigten Hauses und schlagen fast die Türen ein, um jemand zu wecken, umsonst! Endlich im Keller finden wir die Bewohner und fordern zur Brandwache auf. Wir gehen zum Staatsgymnasium und bitten um Hilfe, die dann auch einsetzt. – Auch diese Nacht vergeht, im schlimmen Frieren und in der Gluthitze des Brandes. Aber wir sind doch wenigstens zusammen, das tröstet mich und macht so still und ergeben. Im ersten Morgengrauen kommen die Hyänen des Schlachtfeldes. Gegenüber unserer 11 taucht ein Mann auf. Ich frage nach seinem Begehr. Er versteckt sich. Nun weiß ich, ein Dieb. Ich setze mich auf einen Trümmergegenstand und verlasse erst nach Stunden meinen Wachposten.
Noch immer tobt der Krieg, täglich trifft sich die Hausgemeinschaft im Keller und wir zittern vor Frost und Angst, zumal es oft dröhnt und kracht.
Wir haben jetzt ein kleines Stübchen, das wir unser Heim nennen dürfen. Das wilde Durcheinander von Glasscherben, Mörtel, Holzsplitter in fleißiger Arbeit beseitigt. Das Fenster teils zugenagelt, und eine halbe Fensterscheibe haben wir auch. Das alte Waschgestell, das jahrelang auf dem Boden sein Dasein fristete und dann gerade noch für den Keller genügte, gelangt zu Ansehen und Ehren, desgleichen ein alter Schrank und eine Bank. Gute Menschen helfen hier und da, und allmählich wird wieder ein Haushalt daraus. Zum Schlafen haben wir zu zweit eine Couch. Früher dachte man, man müßte ein Zimmer allein haben. Wenn wir uns hinlegen horchen wir schon wieder hinaus, ob der Feind im Anflug ist. Schon von Ferne hören wir den unheimlichen Ton der Sirenen. Lichtlein angezündet, fester in den Mantel gewickelt, seit Februar sind wir immer in den Kleidern, Taschen und Gepäck umfaßt und möglichst im Finstern durch das zugige Haus, das keine Fenster und Türen mehr hat. Die kleinen Kinder sind immer brav, bei Tagesalarm schleppt Helga getreulich ihren Puppenwagen hinunter.
Wir haben so viel Angst und so viel Gefahr und Not überstanden ohne Schaden zu nehmen an Leib und Seele. „Du treuer Gott, wir danken Dir!“
Auszüge aus den Original-Aufzeichnungen von Schwester Charlotte Dietrich, über ihre Erlebnisse in der Gemeindearbeit; 1945 in Chemnitz in der Kirchgemeinde St. Pauli tätig, aufgeschrieben von meinem Großvater Hans H. Hütter. In dankbarer Erinnerung.
Mehr dazu in den Gedanken zum 5.März 1945.