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Ballhaus Bellevue

    Stadtplanausschnitt von 1874

    Schon seit Jahrhunderten ist die Stollberger Straße über Neukirchen Richtung Stollberg und Schneeberg ein wichtiger Handels- und Verkehrsweg. Die Wagenführer hatten stadtauswärts über Deubners Berg, wie damals der Kapellenberg noch hieß, die erste Steigung zu überwinden. Auch war der schöne Ausblick für die Chemnitzer und ihre Gäste lohnenswert, der sich dem Betrachter beim Hinaufsteigen bot, da der Hang noch gänzlich unbebaut war. Nur weiter draußen gab es mit Leinerts Schankwirtschaft – später als Restaurant „Zum Wind“ bekannt – eine Verpflegungs- und Raststation für Roß und Reiter.

    Annonce aus dem Jahre 1869

    1862/1863 entstand an der Stollberger Chausee das Restaurant „Bellevue“ – französisch für „Schöne Aussicht.“ Es war Ernst Eduard Arnold, der die Chance ergriff, sich ein Grundstück am ebenfalls um diese Zeit neu angelegten Goetheplatz (Nr.1) zu sichern.

    Im Restaurant, mit Ausspanne, einem schönen Garten mit Veranda, fanden im darauffolgenden Jahr erstmals nachweislich Konzerte u.a. der Chemnitzer Stadtkapelle die Zuhörer. In der Zeit zwischen Ende 1864 bis 1869 gab Arnold das Restaurant an Fritz Otto Rollbusch als Pächter ab. Ab 1870 übernahm er wieder selbst die Geschicke.

    Annonce vom 3.Februar 1884

    Das Garten- und Balletablissement wurde immer beliebter, seine Konzerte, Tanzmusiken und Kostumbälle waren stadtweit bekannt. So heißt es in einem Artikel von 1884:
    „In der Reihe der diesjährigen Maskenbälle fehlt auch wiederum derjenige im ‚Bellevue‘ nicht. Und es bedarf wohl kaum des Hinweises, daß derselbe wie immer sich durch prachtvolle, den Reiz eines solchen Ballfestes wesentlich erhöhende Dekoration auszeichnen wird. Das thut nun einmal ‚der alte Arnold‘ nicht anders. Mancherlei Ueberraschungen stehen bevor. Eine derselben ist – man
    verzeihe uns, wenn wir ein wenig aus der Schule schwatzen – dass die Ballbesucher sogar Gelegenheit haben werden, sich an die wundervollen Gestade des Bosporus versetzt zu sehen. Man bewegt sich in einem geräumigen, reizenden Pavillon, welcher den prächtigsten Ausblick gewährt auf das herrliche Panorama der dem Beschauer zu Füßen liegenden Perle Europas: Konstantinopel mit seinen Palästen, Orangenhainen, Gärten, Meeresarmen und der weiteren Umgebung.
    Allein dieser Theil der von Herrn Richard Hartmann effektvoll gefertigten Dekoration ist schon geeignet, dem ‚Bellevue‘ am Dienstag faschingsfrohe Besucher in Schaaren zuzuführen“

    Im Februar 1884 heiratete Arnolds Tochter Anne den Konditor Hermann Goldschmidt. Dem Familienglück geschuldet, wurde Goldschmidt bereits 1885 als Geschäftsgehilfe genannt.

    Doch die Geschäfte Arnolds liefen wohl doch nicht so erfolgreich, wie die ausschweifenden Annoncen die Leserschaft beeindrucken sollten. Am 19.März 1885 wurde die Zwangsversteigerung des Restaurantgebäudes mit großem Konzert-und Tanzsaal, Nebengebäuden und Garten, Schätzwert zusammen fast 122.000 Mark, im Sächsischen Landesanzeiger veröffentlicht. Die Familie konnte den Verkauf abwenden, Arnold zog sich als Privatmann zurück und überließ seinem Schwiegersohn Hermann Goldschmidt, der mittlerweile gut in die Geschäfte eingeführt war, die Lokalität als neuen Schankwirt.

    Ansicht um 1925

    Ab 1887 wurde das Grundstück neu zugeordnet, postalisch jetzt die Stollberger Straße 48.

    Am 31.Juli 1890 starb, nach langer Krankheit im Alter von 70 Jahren, der einstige Erbauer des „Bellevue“ Ernst Eduard Arnold.

    Modernisierungen an den Gebäuden und Anlagen bleiben in den 1890er Jahren nicht aus, ein Kegelschub mit 2 Bahnen im Garten lud u.a. die Chemnitzer Kegelklubs regelmäßig zum Wettkampf ein. Wann die Gebäudeteile jeweils entstanden, konnte ich bisher auf Grund der doch spärlichen Quellen, nicht herausfinden. Vor 1899 muß aber der prächtige runde Eingangsbereich entstanden sein.
    Friedrich Herrmann Goldschmidt führte bis 1906 das „Bellevue“.

    Ab 1907 nennen die Adressbücher Emil Louis Schindler als Schankwirt und Pächter, Goldschmidt bleibt Hauseigentümer. Schindler kaufte im folgenden Jahr das „Bellevue“ und betreibt ab 1910 auch das Restaurant auf dem Sportplatz Chemnitz, die Altendorfer Radrennbahn. Am 5.Oktober 1910 wurde die Firma „Emil Louis Schindler“ auf Blatt 6369 ins Handelsregister der Stadt eingetragen.

    Den ersten Weltkrieg überstand das „Ballhaus Bellevue“. An so prächtige Veranstaltungen wie einst war jedoch nicht mehr zu denken, die Glanzzeiten waren vorbei.

    1928 erschien diese Anzeige in Chemnitz

    Bemerkenswert ist der Adressbucheintrag, das ab 1924 die weitgehend unbekannte „Loge zur Sphinx“ ihre Logenräume im Erdgeschoß hatte. Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 wurde sie, wie auch die schon beschriebene „Loge zur Harmonie“ und andere Logen mit freimaurerischen Bezügen aufgelöst, um einem Verbot zuvorzukommen.

    1928 trat Emil Schindler in den Ruhestand. Er überließ seinem Sohn Paul die Wirtschaft. Am 17.März des Jahres wurde der Name der Firma in „Etablissement Bellevue Paul Schindler“ geändert. Den Kuchen bezog man damals von der weitbekannten Konditorei Michaelis auf der Königstraße.

    Das Luftbild 1945 zeigt die Zerstörung rund um den Goetheplatz, das Bellevue selbst ist ausgebrannt

    Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gewann das Etablissement noch einmal an Popularität. Als Tagungs- und Veranstaltungsstätte nutzten es die Kappler Arbeiter gern, insbesondere die in der SPD und später auch in der KPD organisierten. Da jedoch die Ansichten, auch unter den Arbeitern selber, insbesondere was die Organisation von Streiks betraf, aber auch in politischen Zielsetzungen, sehr unterschiedlich waren, endete so manche Kundgebung in einer kleinen bis mittleren „Saalschlacht“.

    Ab etwa 1943 wurde das Bellevue als Notlazarett umfunktioniert. Paul Schindler mußte sich dem Schicksal des zehrenden Krieges beugen.

    Bei den Bombenangriffen im Februar und März 1945 wurde das Areal rund um den Goetheplatz komplett zerstört. Neben vielen prächtigen Villen an der Stollberger Straße, Wohnhäusern, Fabriken fielen neben dem „Bellevue“ auch die Gebäude der „Zimmermannschen Stiftung“ den angloamerikanischen Angriffen zum Opfer. Es gab Hinweise, daß nach dem Krieg noch ein Nebengebäude verblieb, in dem ein provisorischer Unterrichtsraum und eine Lebensmittelausgabestelle eingerichtet waren.

    (Quellen: Adressbücher der Stadt Chemnitz, diverse Zeitungsausschnitte Chemnitzer Tageszeitungen, zu finden unter SLUB-Dresden.de; Reichsanzeiger zu finden unter https://digi.bib.uni-mannheim.de, u.a.)