Gelegentlich tauchen Aufnahmen und Postkarten zur Entstehungsgeschichte des neuen, zwischen 1907 und 1911 entstandenen, Chemnitzer Rathauses auf. Nur wenige Veröffentlichungen fand ich zum Ablauf des Bauvorhabens, das ähnlich wie heute an anderer Stelle, die Innenstadt beherrschte und für lebhaften Verkehr auf dem Markt und den angrenzenden Straßen sorgte.
Das scheinbar nie unaufhörliche Wachstum der Stadt Chemnitz zum Beginn des 20. Jahrhunderts, mit den Eingemeindungen wuchs das Bevölkerungswachstum von 195.000 Einwohnern im Jahre 1900 auf 241.000 im Jahre 1905, erforderte natürlich auch eine Erweiterung der Verwaltung und ihrer Dienststellen. Das erst 1891 fertiggestellte Rathaus am Beckerplatz konnte die zukünftigen Anforderungen nur teilweise erfüllen.
Am 16. März 1905 beschloss das Stadtverordneten-Kollegium den Bau des neuen Rathauses, das nach den Plänen des Stadtbaurats Möbius ausgeführt werden sollte. Der Standort setzte sich gegen den stillgelegten Johannisfriedhof im Gebiet des heutigen Parks der Opfer des Faschismus durch, den die Stadt nach seiner Schließung 1884 im Jahre 1898 erworben hatte. Noch 1906 sollte das Bauvorhaben in Angriff genommen werden. In die geplanten Kosten von ca. 1.700.000 Mark war auch der Preis von 350.000 Mark für ein am Markt anzukaufendes Haus eingeschlossen. Doch vorher mußte noch eine neue Hauptfeuerwache für die längst zu klein gewordene am Neumarkt und ein neues Leihhaus errichtet werden.
Der Entwurf von Richard Möbius, dessen große farbige Skizze man in der Woche vom 19.-26. März 1905 auf Grund des regen Interesses in der Städtischen Vorbildersammlung König-/Ecke Waisenstraße ausstellte, war nicht unumstritten. Zahlreichen Ausschussmitgliedern war der erste Entwurf zu wenig prunkvoll, sie wünschten sich eine üppigere Dekoration und eine größere Betonung des Eingangs. Bedenken gab es auch zu den Ankäufen mehrerer Grundstücke, die dem Neubau schlicht im Wege standen. Besonders der geplante Abriss des Ostflügels des Alten Rathauses mit seiner wertvollen Gerichtsstube stieß auf Gegenwind. Kritiker wie Alwin Gottschaldt, der Vorsitzende des Chemnitzer Geschichtsvereins, befürchteten, das Alte Rathaus würde durch den Neubau zu sehr in den Hintergrund gedrängt. Ebenfalls für Diskussionen sorgte das Vorhaben, sechs Läden in die Marktseite des Neubaus zu integrieren. Mehrere Stadträte sahen hierin eine Entwürdigung des Bauwerkes.
Doch das Vorhaben blieb in seiner Art bestehen. Ab dem Pfingstfest 1907 fielen die alten Gebäude, auf deren Areal das neue Haus erstehen sollte, nicht weniger als 13 Häuser wurden abgebrochen: der rechts vom Turm gelegene Teil des ältesten Rathauses, ferner Markt 2–6, „Unter den Lauben“, Neumarkt 1-5, sowie Jakobikirchplatz 2 und 4, nämlich das ehemalige Lyceum, dessen Räume einst auch die ersten Anfänge der heutigen Technische Universität Chemnitz beherbergten und zuletzt den Zwecken des Leihamtes und der Poliklinik gedient hatten. Mit den zum Abbruch bestimmten Häusern verschwand auch ein Stück Alt-Chemnitzer Geschichte, namentlich wurden die bekannten Lauben am Markt sehr vermisst.
Die Abbrucharbeiten wurden der Chemnitzer Firma Adolf Unger (Leipziger Str.4) übertragen.
Schon Ende Juni waren die Häuser am Jakobikirchplatz, die Poliklinik und das Leihhaus an der Webergasse niedergelegt. Die alte Feuerwache – die Feuerwehr hatte mittelweile ihr neues Domizil auf der Schadestraße bezogen – und die kleinen Nachbarhäuschen folgten. Bald war der ungehinderte Blick vom Neumarkt zur Jacobikirche und dem Pfarrhaus möglich. Das Areal mußte, um Unfälle zu vermeiden, mit einer Holzwand umplankt werden. Diese blieben leider bei den hastigen und unter Zeitdruck andauernden Abbrucharbeiten nicht aus, Ende Juli 1907 starb ein Handarbeiter, der von einer umstürzenden Mauer getroffen wurde. Er erlitt einen Schädelbruch. Auch gab es immer wieder durch Streiks andauernde Arbeitsniederlegungen. Ende August weigerte sich der Abbruchunternehmer Unger die Arbeiten fortzusetzen, da die stadtseitig gewährte Entschädigungssumme zur Deckung der Abbruchkosten nicht ausreichte.
Zeitgleich wurden auch die Ausschachtungsarbeiten und im September desselben Jahres bereits die ersten Maurerarbeiten und zwar zunächst am Flügel an der Weberstraße, in Angriff genommen.
Die Mauern für diesen Flügel waren schon ein gutes Stück aus den Gründungen emporgewachsen, für 500.000 Mark Maurerarbeiten bereits vergeben, als sich plötzlich ein harter Streit um den Bau erhob.
Als nach Abbruch der alten Gebäude der Chorabschluß der Jakobikirche freigelegt wurde und als Neuerscheinung aus seinem bisherigen Verstecke hervortrat, erregte sein Anblick allgemeines freudiges Erstaunen, und es erhoben sich nun plötzlich Einwände gegen den geplanten Neubau. Die Gegner verlangten einen sofortigen Baustopp und die nochmalige Prüfung der Planung, möglichst mit dem Ziele vollständiger Offenhaltung des Platzes vor dem Kirchenchor. In einer imponierenden Rede aber löste Oberbürgermeister Dr. Beck in der Stadtverordnetensitzung vom 21. November 1907 die Unruhe, die in dieser Frage sich der Bewohnerschaft bemächtigt hatte, indem er in Verteidigung des in Ausführung begriffenen Bauprojektes ausführte, „daß das Bedürfnis der Stadt und der städtischen Verwaltung jetzt gebieterisch die Schaffung eines Rathauses erheische, in dem alle Räumlichkeiten aufgenommen werden könnten, die die Stadtverwaltung braucht, und daß hinter der Erfüllung dieser Notwendigkeit selbst die Freilegung eines überkommenen künstlerischen Bauwerkes zurücktreten müßte…“
An dem Projekt in seiner ursprünglichen Form wich man nicht ab.
Die Bauten wurden noch im Herbst 1907 weiter betrieben und vom Frühjahr 1908 an mit größter Tatkraft auf dem gesamten Baugelände aufgenommen. Insbesondere kamen in diesem Jahr auch die tiefen, schwierigen wasserdichten Eisenbetongründungsarbeiten für die fast 7 m unter Marktniveau gelegenen Kesselhäuser der Heizungsanlage und die Gründungen für den Ratskeller durch die Firma Johann Odorico in Dresden zur Ausführung. Die gesamten Erd- und Maurerarbeiten, namentlich auch die umfänglichen und teilweise recht schwierigen Steinversetzungen, für das neue Rathaus waren der Baufirma Carl Wiesel Nachf., Chemnitz, Inhaber die Baumeister Max Ihle und Fritz Padell, übertragen worden und wurden von dieser in höchst umsichtiger und solidester Weise ausgeführt. Von der gewaltigen Arbeitsleistung, die dabei vollbracht wurde, mögen nur eine Zahl sinnbildlich dienen. Die Abfuhr der Schuttmassen der Ausschachtungen erforderte 7.500 ! zweispännige Fuhren. Heute schwer vorstellbar, was sich da auf den innerstädtischen Straßen abspielte.
Weitere Streiks von Arbeitern sowie finanzielle Engpässe der Stadt in den nächsten beiden Jahren verzögerten die Fertigstellung. Per Zeitungsanzeigen wurden sogar Chemnitzer Unternehmen im Oktober 1910 aufgerufen, für die Innenausstattung zu spenden, was letztlich auch in beachtlichem Umfang geschah.
Zu den Bauarbeiten demnächst mehr in einem wieder reichlich illustrierten Beitrag.
(Quellen: 1911: Sonderbeilage des Chemnitzer Tageblattes zur Rathausweihe „Das neue Chemnitz“ „Chemnitz in Wort und Bild“ – Festschrift zur Einweihung des neuen Rathaus 1911; versch. Artikel aus sächs. Tageszeitungen zu finden unter SLUB-Dresden.de; Artikel aus der Reihe „100 Jahre neues Rathaus“, Freie Presse Chemnitz – 26.07.2011 Autor: Jürgen Werner; „Das Herz der Stadt Chemnitz und sein Neues Rathaus“, Bilder aus der Sammlung von Uwe Kaufmann; u.a.)