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Das städtische Waisenhaus

    Wie eine Welt für sich lag das alte Waisenhaus oberhalb der Forststraße und rechts der Dresdner Straße, nahe dem Zeisigwald, in einem damals noch idyllischen Wiesengrund. Über 90 Jahre lang hatte es sich erfolgreich dem Zugriff der Großstadt widersetzt, hatte vielen Hunderten von Menschenkindern das Elternhaus ersetzt und sie dann, gut auf das Leben vorbereitet, in die Welt entlassen, wo sie ganze Menschen werden sollten.

    So friedlich lag es da inmitten der weiten Wiesen, Ruhe und Zufriedenheit ausstrahlend, ein stilles Glück. Ende der 20er Jahre fiel es dem Fortschritt zum Opfer. Die Großstadt wollte es wegfegen und an seiner Stelle den gigantischen Komplex einer Großmarkthalle errichten. Doch aus finanziellen Gründen kam es nie dazu.

    Das erste Chemnitzer Waisenhaus befand sich in der heutigen Waisenstraße, in etwa an der Stelle, an der sich seit 2018 das Technische Rathaus befindet. Vordem wurden die Waisenkinder durch den Armen-Unterstützungsverein mit erwachsenen Personen und anderen Kindern im Armenhause, das auch zur Unterbringung sittlich verwahrloster Personen diente, untergebracht. Ein besonderes Kinderheim bestand noch nicht. Im Januar 1833 regte der damalige Stadtälteste Karl Friedrich Theunert in einer Sitzung des Rates an, das Haus Nr. 12 in der damaligen Waisenstraße, das der Rat früher erworben und zu einem Cholerahospital eingerichtet hatte, da man es für diesen Zweck nicht mehr benötigte, zur Aufnahme der im Armenhaus verpflegten Waisenkinder zu bestimmen. Am 1. Juli 1833 konnte das Haus seiner Nutzung übergeben werden und dreizehn Knaben und neun Mädchen ihren Einzug halten. Es wirkten an der Anstalt ein Waisenvater und seine Ehefrau als Waisenmutter, und von 1834 ein Lehrer, der die Kinder zu unterrichten und die Eltern in deren Erziehung zu unterstützen hatte. 1838 machte man den Versuch, das Amt des Lehrers mit dem des Vaters in einer Person zu vereinigen, eine Einrichtung, welche bis 1856 bestand hatte.

    Nachkolorierte Ansicht aus "Sachsen in Bildern" um 1842
    Erste Beschreibung des Waisenhauses - aus F.G. Wieck "Sachsen in Bildern" 1840-1842
    Ansicht um 1850

    Die Beschäftigung der ersten Insassen des Waisenhauses bestand in Tütenkleben und Federnschleißen. Man erkannte aber gar bald, daß für die Kinder für eine bessere, der Gesundheit dienlichere Beschäftigung in frischer Luft gesorgt werden müsse.

    Da auch diese Räumlichkeiten sich bald zu klein erwiesen, wurde beschlossen, für die Waisenkinder ein Haus in ländlicher Umgebung außerhalb der Stadt zwischen Dresdner Straße und dem Zeisigwald erbauen zu lassen. In kurzer Zeit erbaute man auf dem 42 Scheffel betragenden, damals auf 1.570 Thaler taxierten Grundstück das neue Waisenhaus. Am 1. Mai 1836 wurde der Grundstein zu dem Gebäude gelegt und schon am 19. Dezember 1836 konnte es bezogen werden. Das unentgeltlich überlassene Areal, bestehend aus Feld- und Wiesengrundstücken, war unstreitig das beste Geschenk, was von der Stadt gemacht werden konnte.

    Zunächst bestand die Anlage aus Wohnhaus, Scheune und Kuhstall, wurde aber bald durch Errichtung einer zweiten Scheune zu einem geschlossenen Gehöfte ausgestaltet. Theunert selbst spendete dafür 9.000 Mark. Sein Sohn und dessen Ehefrau erhöhten die Summe später auf 25.000 Mark und erhoben sie zur Theunert-Stiftung. Mit den Zinsen wurden alljährlich am Todestag des Stifters, er starb am 10. Mai 1875, „besonders fleißige und sich gut führende Zöglinge“ ausgezeichnet. Ebenso wurden jährlich am Johannistage (24. Juni) aus den insgesamt 28 Stiftungen – nach erlangter Mündigkeit – Geldgeschenke in Gestalt von Sparkassenbüchern verliehen.

    Das Waisenhaus stand unter unmittelbarer Leitung eines vom Rate und dem Stadtverordneten berufenen Ausschusses. Er bestand aus je 4 Mitgliedern beider Kollegien und dem Anstaltsarzt und hatte die Bewirtschaftung und die Vermögensverwaltung zu leiten, jährlich einen Haushaltsplan zu entwerfen und dem Stadtrat vorzulegen. Er prüfte Personalveränderungen und entschied über Gesuche zur Aufnahme ins Waisenhaus.

    Zur Erhaltung des Waisenhauses diente zunächst die Erträge der selbstbewirtschafteten Felder rund um das Waisenhaus, des Tierbestandes und sein Kapitalvermögen, das ausschließlich aus Schenkungen hochherziger Mitbürger hervorgegangen ist. Die Stadt leistete zudem Zuschüsse.

    Das Waisenhaus erfreute sich eines reichen Stiftungsfonds. Unter den Stiftern befanden sich auch einige dankbare ehemalige Pfleglinge des Waisenhauses. Die größte und segensreichste war die Falke-Stiftung (nach Handschuh-Fabrikant Bruno Falke) vom Jahre 1908, mit einem Stiftungskapital von 200.000 Mark.

    Ausschnitt des Chemnitzer Stadtplanes 1898 - oben das Waisenhaus am Zeisigwald

    Weitere größere Stiftungen waren:

    • die Ebert-Stiftung, benannt nach dem Kaufmann und Fabrikbesitzer Robert Ebert, der 1868 dem Haus 60.000 Mark (davon 15.000 Mark für den Schulhausbau) vermachte
    • die Albert-Stiftung – der Chemnitzer Rechtsanwalt setzte das Waisenhaus 1873 als Universalerben ein und lies ihm auf diese Weise eine Summe von 38.400 Mark zukommen
    • die Clauß-Stiftung – Stadtrat Ernst Otto Clauß – Für den Erwerb des privaten Parks „Sachses Ruhe“ zwischen der heutigen Straßburger-, Becker- und Rößlerstraße, der als Keimzelle des heutigen Stadtparks betrachtet werden kann, stiftete er 1884 die komplette Kaufsumme. Später auch noch als Clauß’scher Park bezeichnet.
    • Die Trübiger-Stiftung – die Pensionären Sophie Pauline Trübiger stiftete 1912 eine Summe von 16.975 Mark und
    • die oben bereits genannte Theunert-Stiftung des Stadtrates und Förderers Karl Friedrich Theunert, der über 25 Jahre hinweg Zeit und Kraft in den Dienst der Waisen stellte und sich große Verdienste erwarb.

    Im Jahr 1870 wurde mit Hilfe des Stiftungsbetrags des Kaufmanns Ebert das Waisenhaus durch den Bau eines eigenen Schulhauses mit Lehrerwohnung wesentlich vergrößert. Der Schulunterricht der Waisenkinder erfolgte bis zum Jahre 1883 in zwei Klassen durch den Waisenhauslehrer im Schulzimmer des Waisenhauses. Von da an wurden die Kinder, den höher gesteckten Zielen der Volksschulen entsprechend, der nächsten Bezirksschule, zuletzt der Lessingschule, überwiesen. Dadurch konnte auch das bisherige Schulhaus mit einem Anbau an der Ostseite als Wohnhaus vergrößert und dadurch Platz zur Unterbringung von hundert Kindern gewonnen werden.

    Luftbild aus der Mitte der 1920er Jahre – links unten das Areal des Waisenhauses hinter der Dresdner Str.

    Aus Sparsamkeitsgründen wurde 1923 die Stelle des Waisenhauslehrers eingezogen. Die Waisenhausverwaltung war auch bemüht, nach der Schulentlassung das Wohl ihrer Pfleglinge zu fördern. Es verblieben die Mädchen noch ein weiteres Jahr zur Ausbildung in allen hauswirtschaftlichen Arbeiten im Waisenhause. Die Knaben wurden zur Erlernung eines Berufes tüchtigen, gut beleumundeten Lehrmeistern übergeben. Gut Befähigten ermöglichte man den Besuch höherer Lehranstalten, beispielsweise Lehrerseminar, Realschule, Unteroffizier-Schule, Handelsschule, Haushaltungsschule, u.a.

    Zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen wurde mit dem Einbau eines Brausebades für die Kinder, in etwa zeitgleich mit der Errichtung des ersten Volksbrausebades, im Jahr 1899 Rechnung getragen. 1918 wurden noch einmal bauliche Veränderungen durch Vergrößerung des Stallgebäudes vorgenommen.

    Die zugehörigen Grundstücke hatten ursprünglich zum Teil noch aus Waldboden bestanden und waren deshalb erst urbar zu machen. Die Waisenhausverwaltung und unter ihrer Leitung die Pfleglinge der Anstalt schufen auf diesem Grund und Boden im Lauf der Jahrzehnte ein stattliches Anwesen, ein freundliches, schmuckes Gehöft, in dem durchschnittlich zwischen 85 bis 90 Kinder lebten. Der Höchstbestand mit 112 Kindern ist im Kriegsjahr 1918 erreicht worden. In den zwanziger Jahren ging durch die überaus große Nachfrage um Überlassung geeigneter Kinder- und Familienpflege die Durchschnittsbelegung zurück und betrug in den Jahren 1926 bis 1928 64 Kinder. Rund 1400 Waisenkindern hat das Waisenhaus während seines 95jährigen Bestehens das Elternhaus ersetzt. In guten Zeiten und auch in Stürmen schwerer Not ist es seinen Aufgaben gewachsen gewesen.

    Nach dem Ersten Weltkrieg verfügte das Waisenhaus über ein Vermögen von 430.000 Mark. Infolge der Geldentwertung 1923 schmolz das Stiftungskapital auf 103.616 Mark zusammen.

    Die Entwicklung des Waisenhauses wurde in den letzten zwei Jahren seines Bestehens dadurch gehemmt, dass der geplante Bau einer Großmarkthalle auf dem Gelände des Waisenhauses die vollständige Beseitigung des Waisenhauses zur Folge gehabt hätte.

    Am 31. März 1928 schloß das Waisenhaus seine Pforten. Die bis zuletzt im Waisenhaus gewesenen Kinder wurden in Familienpflege untergebracht oder dem Johanneum und dem Kinderheim überwiesen.

    Da mit dem Bau der Großmarkthalle wegen finanzieller Schwierigkeiten nicht begonnen werden konnte, wurde das Gebäude zwischenzeitlich anderweitig genutzt. In den unteren Räumen des ehemaligen Waisenhauses befanden sich so 1933 die Nähstuben der Chemnitzer Nothilfe, in den oberen Räumen war seit 1928 die städtische Jugendherberge untergebracht, während Scheune und Stallung sowie die landwirtschaftlichen Flächen an einen Landwirt verpachtet waren. Die Jugendherberge sollte eine neue Bleibe im Gelände des heutigen Schullandheimes erhalten, die Pläne wurden aber ebenso aus Kriegs- und Kostengründen nicht umgesetzt.

    Etwa Mitte der dreißiger Jahre erfolgte der Abbruch der Gebäude. An ihrer Stelle entstand die Polizeikaserne. Am 26. Oktober 1938 wurde Richtfest gefeiert und ein Jahr später nahm hier das Gendarmeriekorps den Dienstbetrieb auf.

    Nach 1946 wurde das Areal mit dem zerstörten Gebäude von der benachbarten Volkspolizei (heute BdVP) übernommen, die auch das beschädigte Gebäude wieder aufbauen ließ, wenn auch nicht ganz originalgetreu. Bis heute ist darin der polizeiärztliche Dienst und die Polizei-Krankenkasse, sowie die Heilfürsorge untergebracht.

    (Quellen u.a.: Berichte der Verwaltung der Stadt Chemnitz, versch. Jahrgänge; Artikel in den Chemnitzer Neueste Nachrichten– 19. März 1928, der Allgemeinen Zeitung Chemnitz – 1. Juli 1933; Buch „Chemnitz am Ende des 19. Jahrhunderts“; versch. Zeitungsartikel zu finden unter SLUB-Dresden.de)