Jahrhundertelang hatten die Stadtvorderen ihren Sitz in den Räumen des altehrwürdigen Rathauses am Hauptmarkt.
Mit der stürmischen industriellen Entwicklung des sächsischen Manchester zwischen 1850 und 1914 verbanden sich ständig wachsende Anforderungen an die städtische Verwaltung. Die Einwohnerzahl stieg in diesem Zeitraum von etwa 32.000 auf 320.000. Bereits 1870 erwog der Rat der Stadt, ein neues Rathaus zu beziehen. Es sollte aber noch bis 1879 dauern, bis die Überlegung, das 1857 errichtete Schulgebäude der Höheren Bürger- und städtischen Realschule an der Poststraße 51 als Rathaus zu benutzen, verwirklicht werden konnte. Die Realschule (später Realgymnasium) konnte zwar schon 1869 das neue Schulhaus an der Reitbahnstraße beziehen, aber die Höhere Bürgerschule war noch unterzubringen. Mit der Eröffnung des neuen Gebäudes für die Königlich Höhere Gewerbeschule (heute Hauptgebäude der Technischen Universität an der Straße der Nationen) im Jahre 1877 war die Voraussetzung für den Umzug der Höheren Bürgerschule in das ehemalige Gebäude der Gewerbeschule an der Dresdner Straße gegeben.
Am 16. Juni 1879 konnte der Umbau, dessen Gesamtkosten sich auf ca. 420.000 Mark beliefen, als das „Neue Rathaus“ an der Poststraße eingeweiht werden. Nach wenigen Jahren zeigte sich, dass die Räumlichkeiten des Hauses abermals nicht ausreichend waren. Die kommunalen Belange hatten sprunghaft neue Dimensionen angenommen.
Das kam u. a. in folgenden Prozessen zum Ausdruck: 1879 erwarb die Stadt die bisher privat betriebenen Gasanstalten. 1880 eröffnete die Pferde-Straßenbahn ihren Betrieb. In diesem Jahr erfolgte auch die Eingemeindung von Schloßchemnitz, Am 4. Dezember 1883 wurde der Schlacht- und Viehhof feierlich eingeweiht. Wiederholt sollte es kein Neubau sein. In verschiedenen Debatten einigte man sich auf die Lösung, einen 1.740 m² großen Anbau, in Beibehaltung der bereits 1868 festgelegten Baulinie am Beckerplatz, zu errichten.
Dazu war es jedoch erforderlich, die alte als Ratsarchiv genutzte Turnhalle, den als Polizeihauptwache benutzten Stadtturm, die dazugehörige Fronfeste sowie das an der Langestraße gelegene ehemalige Strumpfwirkerhaus, in dem sich bis dahin die Arbeitsräume des städtischen Wasserwerkes befanden, abzubrechen. Die Polizeiwache wurde in ein, von Herrn Beyreuter angemietetes und in der Moritzstraße gelegenes, Haus für einen jährlichen Mitzins von 1.500 Mark verlegt.
Am 23.Mai 1889 begann man mit dem Abbruch, und am 27. Juni des gleichen Jahres konnte bereits der Grundstein zum Rathausanbau gelegt werden. Im Oktober war der Anbau soweit gediehen, dass sämtliche Grundmauern fertig gestellt und das Niveau der Umgebung angepasst worden war.
Bis 1891 entstand unter der Leitung von Stadtbaurat Eduard Hechler der repräsentative Anbau, der mit einem schlichten Verbindungsbau mit dem bisherigen Rathaus gekoppelt war. Im August 1891 bekam der reich gegliederte Mittelbau mit seinem schmucken Türmchen eine Uhr. Schließlich am 7. September 1891 wurde das „Neue Rathaus“ – nun am Beckerplatz – seiner Bestimmung übergeben.
Die Hauptfassaden waren in Sandstein, die Hoffassaden als Ziegelrohbau ausgeführt, das Dach mit Schiefer gedeckt. Von der Langestraße aus konnte man die Polizeihauptwache im Kellergeschoß betreten, im Erdgeschoß befanden sich die Polizeiverwaltung und die Meldestelle. Die Expeditionsräume lagen vornehmlich zum Beckerplatz und zur Langestraße hin, die Nebenräume zur Hofseite. Im 1. Obergeschoß, das man über die mit Granitstufen belegte Haupttreppe erreichte, lagen die Geschäftsräume der allgemeinen Verwaltung, im 2. Obergeschoß die der Bauverwaltung und der Gewerbeabteilung. Beide getrennt durch den, mit Parkett-Fußboden ausgestatteten, Ratssitzungssaal im Mittelbau. Im Dachgeschoß war ein 2. Zeichensaal und das Archiv untergebracht. Das Gebäude hatte Gasbeleuchtung, eine Klosett- und Wasserleitungsanlage, die Räume wurden mit einer Niederdruck-Dampfheizung erwärmt und waren bereits mit Feuerlöscheinrichtung versehen.
Doch auch diese Rathausbauten an der Poststraße und am Beckerplatz waren bald für die Erfordernisse der gewaltig sich entwickelnden Stadt zu eng geworden. Zur Erweiterung der Geschäftsräume hatte man zunächst 1901 im Hofe dieser Gebäude einen Flügelanbau ausgeführt und das Arresthaus erbaut, dann die Seim’schen Häuser und den ehemaligen „Bayrischen Hof“ an der Langestraße angekauft und ihre Räume für städtische Geschäftszwecke eingerichtet.
Der Beckerplatz mit seinen gepflegten gärtnerischen Anlagen war bereits am 2. September 1871 mit dem Denkmal von Christian Gottfried Becker (1771-1820) — gestaltet vom Bildhauer Haendler — geweiht worden. Mit C. G. Becker ehrte die Stadt einen damals sehr bekannten Mitbegründer der Chemnitzer Industrie. Diesen Platz säumte auch die 1867 entstandene Chemnitzer Börse.
Der Wunsch blieb aber im Stadtkollegium, den 1888 aus finanziellen Erwägungen von der Mehrheit der städtischen Kollegien abgelehnten stattlichen Repräsentationsbau am Markt und Neumarkt doch noch zu schaffen. Mit dem Beschluß zur Umsetzung 1905 und dem Beginn des Abrisses 1907 wurde der Platz für das neue Rathaus freigemacht.
Nach genau 20 Jahren kam es dann zum Umzug der Stadtverwaltung in das am 2. September 1911 eröffnete und heute bekannte Neue Rathaus. Der Rat der Stadt erklärte 1913 die ehemaligen Neuen Rathäuser als „Stadthaus“. In diesen waren weiterhin städtische Behörden, wie das Tiefbauamt und das Baupolizeiamt u.a., untergebracht. Diese Gebäude gingen 1945 in Schutt und Asche unter. Im Wiederaufbauplan der Stadt Chemnitz 1946 waren für das Gebäudeensemble 2,3 Millionen Mark vorgesehen, jedoch wurde ein Abriss vorgezogen
(Quellen: Bericht der Verwaltung der Stadt Chemnitz 1893; Buch „Chemnitz am Ende des 19. Jahrhunderts“; jeweils zu finden unter SLUB-Dresden.de; Artikel von Dr. sc. Gert Richter im Chemnitzer Tageblatt 1990; u.a.)