An diesem trüben Februarabend des Jahres 1925 stehe ich am Markt und warte auf Fräulein Pauline. Diese nette bezaubernde junge Dame, die ich erst letzte Woche im Kassenraum der Commerz-Bank am Johannisplatz kennengelernt habe, hat meine Einladung zum Kinobesuch in den Kammerlichtspielen nicht abgelehnt. Vorsorglich bin ich ein wenig eher von Altchemnitz mit der Straßenbahn gekommen. Ich habe noch ein bisschen Zeit und schaue mich im Eingangsbereich dieses neuen Kinopalastes um.
Der Hauptzugang zu den neuen Kammerlichtspielen führt vom Chemnitzer Markt aus durch das Grundstück Markt 16, dessen schlichte ruhige Fassade ein neues farbiges Gewand erhalten hat. Es grenzt direkt an den „Römischen Kaiser“, den ich in einem Beitrag bereits vorgestellt habe. Eine straffe Konturenbeleuchtung umrahmt die Schauseite und überflutet sie am Abend mit einem magischen Rot. Das alte Barockportal ist erhalten geblieben. Ein neues kunstgeschmiedetes Gitter schließt die Toröffnung mannshoch ab, während über dem geschwungenen Kämpfer das prächtige alte Barockgitter in lustigen Schnörkeln spielt. Auch die alten Kreuzgewölbe des anschließenden Durchganges sind erhalten geblieben.
Lediglich ein feines Gewebe zierlicher Rippen ist neu hinzugefügt. Zu beiden Seiten des Ganges reihen sich naiv geformte Beleuchtungskörper. Die niedrige, in satten Farbtönen gehaltene Kassenhalle vermittelt den Zugang nach der geräumigen Eingangshalle, deren Wände mit zartgrüner Ullersdorfer Keramik verkleidet sind. Während der Fußboden mit stumpfen Klinkern belegt ist, zeigt die weiße Stuckdecke zwischen den konstruktiv erforderlichen Unterzügen eine enge Reihung tief eingeschnittener Kassetten, in die sıch in dichter Folge zierliche Gehänge tropfenförmiger Beleuchtungskörper spannen. . Fünf zweiflügelige Eingangstüren vermitteln den Zugang von der Halle zum Parkett des Zuschauerraumes, an dessen Längsseiten sich Nottreppen und sieben weitere Ausgangstüren nach dem Marktgäßchen und nach der Bretgasse befinden.
Bereits vor einigen Jahren hatte die Stadtverwaltung einen Wettbewerb über die Gestaltung der Schauseiten des Marktplatzes veranstaltet, um Richtlinien für eine künftighin zu erwartende Neubebauung zu gewinnen. Dem Architekten Erich Basarke war von der „Hotel- und Theater-A.G. Römischer Kaiser“ die Aufgabe gestellt, eine Gesamtplanung über die der Gesellschaft gehörigen Grundstücke am Markt, von der Bretgasse bis Markt 16, aufzustellen, die sich abschnittsweise durchführen läßt und als deren 1. Bauabschnitt das Lichtspieltheater im Blockinnern zu errichten sei. Der Architekt hat diese Aufgabe in wirtschaftlicher, bautechnischer und baukünstlerischer Hinsicht voll gemeistert.
Der Neubau des Lichtspieltheaters entwickelt sich auf einer unregelmäßigen Grundfläche, die tief im Blockinnern liegt und allseitig von hoher Hinterlandbebauung eingeschnürt wird. Lediglich am Marktgäßchen schiebt sich der Neubau in geringer Breite an den öffentlichen Straßenraum heran, während nach dem Markt und nach der Bretgasse lange Gänge durch die Altbauten durchgreifen. Gerade die geschickte Verteilung der Menschenmassen bei plötzlich eintretender Entleerung nach drei verschiedenen Richtungen hin ist es, die dem großen Versammlungsraum das erhöhte Gefahrenmoment nimmt, das einer allseitig engen Umbauung innewohnt.
Die Ausnutzung des zur Verfügung stehenden Bauplatzes geht aus den Grundriss sowie dem Längsschnitt hervor. Auf einer bebauten Grundfläche von 1290 m² entwickelt sich der Kinosaal als zentraler Kuppelbau, um den sich, unter geschickter Ausnutzung der vielen unregelmäßigen Ecken und Winkel, die zahlreichen Nebenräume und Treppen gruppieren, während Eingangshalle, Foyer und Bühne achsial vorgelagert sind. Zwei viergeschossige Flügelbauten schließen an die Altbauten am Markt an.
Der gesamte Bau ist unterkellert. Im Kellergeschoß liegen die Druckluftheizung, der Wirtschaftskeller, der versenkte Orchesterraum, Magazine und ein außerordentlich großer Weinkeller.
Um die Zeit zu verkürzen und Fräulein Pauline nicht warten zu lassen, kaufe ich die Billets und begebe mich wieder Richtung Markt. Da steht Fräulein Pauline bereits, diese attraktive Mitzwanzigerin, die ihr Versprechen gehalten hat. Nach einer kurzen Umarmung bitte ich Sie hinein. Auch sie hat das neue Lichtspieltheater, das erst im Januar 1925 neu eröffnet hat, noch nicht von innen gesehen.
Von der Eingangshalle aus nehmen wir gemeinsam die breite, in buntem Marmorbelag ausgeführte, Massivtreppe zum Rang. Das den Rängen im Obergeschoß vorgelagerte Foyer ist reich ausgestattet.
Die Wände und die diagonal kassettierte Rippendecke des Foyers sind ganz in Weiß gehalten. Die führende Note gibt der den Raum in seiner gesamten Fläche überspannende, farbenfrohe, kräftig gemusterte Teppich.
Im Gegensatz zu den unruhigen Beleuchtungskörpern fügen sich die gestelzten bunten Glasfenster glücklich ein und geben dem Raum durch ihr gedämpftes Licht eine behagliche Stimmung. Das geräumige Foyer ist mit einer kleinen intimen Kabarettbühne ausgestattet, um die Besucher nach der Vorstellung noch zu längerem Verweilen anzureizen.
Auch Fräulein Pauline ist ganz angetan von der Ausführung des Baues. Das verrät sie mir in unserem Gespräch, in dem sie äußert, daß sie ja die Pläne kennt. Ich stutze: „Ja wissen sie denn nicht das Herr Basarke auch am Johannisplatz in der Commerz-Bank sein Architekturbüro hat? Ich bin bei ihm angestellt und erledigte letzte Woche den Bankverkehr für das Büro …“ fügt sie hinzu.
Welch glücklicher Umstand hat mich zu diesem Treffen geführt….Sie kann mir so vieles erklären:
Der Kinosaal weist eine Länge von 28 und eine Breite von 25 m auf. Über der in seinen Wandungen unregelmäßigen Grundrißform ist auf schlanken Säulen ein zentraler Kuppelraum von 20 m Spannweite und 13 m Höhe entwickelt. Die Logen des ersten Ranges begleiten die kreisrunde Raumführung, in die sich das Bühnenportal mit versenktem Orchester einfügt. Der Parkettraum enthält bei außerordentlich übersichtlicher Anordnung 778 bequeme Sitzplätze, die in 15 Reihen zu drei Gruppen zusammengefaßt sind. Sämtliche Sitze sind leicht abnehmbar, so daß der Saal auch zu Versammlungen und festlichen Veranstaltungen jederzeit benutzt werden kann. Die Bühne ist zugleich als kleine Spielbühne eingerichtet. Sie ist mit drei Versenkungen versehen und eignet sich für Varıete-und kleinere Operettenvorstellungen. Der Neubau hat eigene elektrische Licht- und Ozonanlage.
Das 1.Obergeschoß enthält die Ranggalerie mit 266 Sitzplätzen, und zwar 138 Reihensitze und eine große Mittelloge nebst 10 Seitenlogen mit zusammen 128 bequemen Logensitzen. Im 2. Obergeschoß, das den lotrecht durchgehenden zentralen Kuppelraum umschließt, liegen der Vorführerraum mit unmittelbarem Fluchtweg ins Freie, ein Probevorführungsraum, Büros, Nebenräume und eine vierräumige Wohnung mit Zubehör. Die gleiche Wohnung, die ebenfalls das einzige Stück kurzer Straßenfront am Marktgäßchen ausnützt, befindet sich nochmals darüber im Giebel des Dachgeschosses.
Gemeinsam nehmen wir unsere Plätze ein, die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten.
Der große Kinosaal als Hauptraum des Baues, zeichnet sich durch eine gute Raumwirkung aus. Tiefes Rot beherrscht den Saal. Alle stützenden Bauteile sowie die Rangbrüstungen und die Türen sind mit rotem, naturfarbenem Edelholz verkleidet, dessen lebhafte Maserungen die glatten Flächen beleben. Auf den stumpfroten Wänden spielen nur hie und da einige zartgoldene ornamentale Linien. Die Kuppel prangt in sattem Blau, überspannt von einem dichten Gewebe goldener Ornamente. Das Bühnenportal ist in der Farbgebung zurückhaltender gestimmt, um die Bildwirkung nicht zu stören. Die durch die Raumverhältnisse, durch Form und Farbe erzeugte Raumwirkung trägt den Charakter edler Ruhe und Konzentration. Das Festliche, Prickelnde aber setzt sich durch, sobald aus den vielen, zum Teil recht köstlich erfundenen und gestalteten Beleuchtungskörpern die zahllosen Lichter spielen.
Wie im Fluge vergeht der Abend, von Fräulein Pauline und dem Gebäude angetan, und mit Schmetterlingen im Bauch, hab ich sogar vergessen, wie der Film hieß, den wir uns angeschaut haben, verzeiht die Umstände…
Mit dem Neubau der Kammerlichtspiele hatte Chemnitz ein neues modernes Lichtspieltheater erhalten, zugleich aber auch einen wertvollen großen Versammlungssaal mitten im Zentrum der Stadt, der eine würdige Stätte für ernste Veranstaltungen abgab und auch für frohe Feste seine Tore öffnete.
Von 1925 bis 1930 waren die Kammerlichtspiele im Besitz der Fa. „Römischer Kaiser“, Hotel- und Theater-AG, Direktion Leo F. Spelthahn, sie beschäftigen im Jahre 1929 ca. 60 Mitarbeiter. Diese Gesellschaft wurde 1912 gegründet und hatte Ihren Sitz zuerst in der Bretgasse 1. Dort betrieb sie ein Kinomatografisches Theater, die „alten“ Kammerlichtspiele. 1922 wurde die Gesellschaft in eine Aktiengesellschaft (Stammkapital 1.000.000 RM) überführt. Die Aktien wurden jedoch nicht gehandelt und befanden sich in festem Besitz. Am 7. April 1930 starb der Geschäftsführer Leo Spelthahn. Ihm folgte der Kaufmann Paul Seidler, doch bereits am 28. Juli 1931 endete auch dessen Leben. Kaufmann Ernst Oskar Köhler (auch Geschäftsführer des „Römischen Kaisers“ übernahm die Geschicke.
Ab 1933 war die Universum-Film Aktiengesellschaft (UFA) – Berlin – Eigentümer das Komplexes. Um 1934 wurden noch einmal bauliche Veränderungen vorgenommen, unter anderem wurde der Eingangsbereich verbreitert, und die Sitzanzahl um 100 erhöht. Das Kino hieß ab dann UFA-Palast und gehörte bis zur Vernichtung 1945 neben der „Lichtburg“ und dem „Filmpalast Roter Turm„ zu den populärsten Lichtspieltheatern in Chemnitz.
(Quellen: Deutsche Bauzeitung, 21.Oktober 1926, Bilder u.a. aus dem Buch „Erich Basarke“ – Scan von Mike Hähle, Buch: „Die Aktiengesellschaften von Chemnitz und Umgebung“ 1929 zu finden unter SLUB-Dresden.de)