Habe ich Euch fast vor genau einem Jahr das Stadtbild von Chemnitz um 1800 geschichtlich näher gebracht, möchte ich meine geehrte Leserschaft diesmal zu einer Wanderung durch das Chemnitz des 18. Jahrhunderts mitnehmen. Wann es sich genau abspielte, lässt der Autor offen, aber er beschreibt es leicht verständlich und authentisch. Der Verfasser dieser Erzählung, E. Weinhold – Bürgerschullehrer und Archivar, gab gemeinsam mit dem Verein für Chemnitzer Geschichte 1906 das Buch „Chemnitz und Umgebung – Geschichtliche Bilder aus alter und neuer Zeit“ heraus, in dem wir weitere Aufsätze finden. Ein schönes Stück zur Heimatkunde.
Die Sonne war längst aus dem Wolkenschleier hervorgetreten, als wir von der „Zwickischen“ Straße her über die Brücke auf das Nikolaitor zuschritten. Die Glocken, die zur Messe riefen, grüßten auch uns. Im Schlacht- oder Kuttelhofe hatten die Fleischer schon ihre Arbeit begonnen, und eben wurde wieder ein feister Stier hinein in den unheimlichen Raum geführt, der sich links zum Wasser hinabsenkte. Gleichzeitig mit uns traf ein mächtiger, von sechs Pferden gezogener Lastwagen ein. Unter dem Bogen des Tores machte er halt. Der Torwart trat heraus und fragte nach der Art der Ladung, „Wein aus Franken haben wir gebracht“ gab ihm der älteste der drei Fuhrknechte zur Antwort. „So sind zehn Heller als Zoll zu entrichten. Daß Ihr außerdem noch das Geleitgeld zahlen müßt, ist Euch wohl bekannt?“ Der Knecht nickte. Bald war das Geschäft abgemacht, und das Gefährt setzte seinen Weg fort, in die Lange Gasse hinein.
Wir bogen schon vor Graben und Tor nach links ab und gingen den Stadtgraben entlang, der vom Wege durch eine Mauer getrennt war. Als Handwerksburschen waren wir nach der Pforte beim Franziskanerkloster gewiesen. Dort fiel meinem Freunde ein steinernes Bildnis in der Mauer auf. Gern erzählte ich ihm die mir von früher her bekannte Sage, daß in dem Steine das Angesicht einer Jungfrau verewigt werde, die schwere Sünde begangen habe und zur Strafe gezwungen worden sei, die fünf Türme zwischen der Pforte und dem Nikolaitore erbauen zu lassen. Ein Steg führte uns über den Graben.
Eine kurze Strecke nur hatten wir zurückgelegt, da kamen wir an die Brüder- oder Barfüßergasse. Eben schritt einer der Franziskaner vom Roßmarkte daher. Der gefüllte Korb in seiner Rechten redete davon, wie freigiebig sich die Bürgersleute wieder einmal erwiesen hatten. Über die Lohgasse hinweg und durch das enge Gäßchen geradeaus gelangten wir bald zu der großen Jakobikirche, hinter ihr, nach links zu, hatte sich eine Schar spielender Kinder auf dem ehemaligen Friedhofe versammelt, wir wendeten uns rechts, nach dem Markte. Dort gab es einen großen Auflauf, denn am Turme des Rathauses stand eine Frau am Pranger, den Hals und die Hände in ein Eisen gelegt und jedermann zu Spott und Schimpf, weil sie üble Rede verbreitet hatte. Auch wir zogen mit an ihr vorüber, schauten dabei aber auch einmal hinein in den Raum unten im Rathause, wo die Ratswaage untergebracht war. Große Ballen Wolle wurden eben gewogen. Nahe dabei beobachteten wir, wie vornehme Herren in den Weinkeller des Rates traten, über dessen Tür ein Eichenkranz zur Einkehr lud. Aber auch weiter drüben herrschte lebendiges Getriebe, Wagen mit Getreide und mit Hopfen aus Böhmen waren aufgefahren. Bäcker und andere Bürger standen dabei, um ihren Bedarf an Backvorrat und Brauwürze zu decken, ehe ihnen etwa fremde Käufer zuvorkommen konnten. Es gab nicht mehr viel Zeit zu verlieren, sonst wurde der Strohwisch, der an einer Stange aus dem Rathause hervorspießte, eingezogen, und der Handel war für alle freigegeben. Unser Weg führte uns weiter den Markt dahin, an Krämerbuden vorbei. Schnallen zum Schmuck der Schuhe, Krüge von Zinn, große und kleine Wachs- und Talgkerzen wurden da ausgeboten. Aus den Brotbänken unter den Lauben, wo die Bäckerjungen mit lautem Geschrei ihre Waren ausriefen, trugen die Bürgerfrauen Gebackenes, von den Fleischbänken daneben saftige Stücke für den Braten heimwärts.
Da wir vom Wege und vom Schauen ermüdet waren, stärkten wir uns erst in der Garküche links um die Ecke. Lange litt es uns indes in dem engen, menschengefüllten Raume nicht. Bald waren wir wieder im Freien. Immer noch war alles in Bewegung. Aus der Lateinschule hinter der Kirche, dem Lyzeum, eilten die Schüler nach Hause. Ein Benediktinermönch drängte sich durch die Menge. Fuhrleute und Kärrner, die Salz geladen hatten, zogen an uns vorüber. Da die Sonne heiß schien, traten wir in die Lauben, die sich unter dem sogenannten Gewandhause hinzogen, und schlenderten links hin, der Johannisgasse zu. wir ließen sie jedoch seitwärts liegen und wendeten uns nach Süden, nach einer Gasse, die „bei der Bach“ genannt wurde. Hier rann uns ein kleines Wasser frei in der Straße entgegen. Eben war eine Frau damit beschäftigt, vor der Tür ihres Hauses in dem Gerinne Hausgeräte abzuscheuern, wie da der Weg ausgeweicht erschien; denn Pflaster gab es in der kleinen Nebengasse nicht. Aber gerade hier mußten wir einkehren, denn in der linken Häuserreihe hatte die Baderei ihren Platz — und ein Bad sollte uns erfrischen.
Gestärkt setzten wir am Nachmittage unseren Weg fort, wir gingen die Lange Gasse hin, wo eben ein Böttcher, eingehüllt in dichten Rauch, Fässer auspichte. Die enge Bretgasse brachte uns wieder nach dem Markte zurück. Schon ließ der Marktmeister den Platz säubern, denn Käufer und Verkäufer waren von dannen. Nun bot sich uns auch erst recht Gelegenheit, das lebendige Bild der nördlichen Marktseite zu betrachten. Links ragte das schöne, steinerne Rathaus, ein fast neuer Bau, mit seinem Turme auf. Daran schloß sich nach Osten zu eine Reihe von stattlichen Wohnhäusern. Weiter rechts strebte der mächtige Giebel des Gewandhauses empor, dessen Fenster von kunstvollen Verzierungen umrahmt waren. Unter all den Gebäuden hin aber reihte sich ein Bogen an den anderen und half die Lauben bilden. Ein Mauerturm schaute neugierig über das Dach des Eckhauses zur Rechten herüber. So standen wir und prägten uns das Bild ein. Dabei erst wurden wir auch des Brunnens gewahr, dessen Wasser gar nicht weit von uns in den hölzernen Bottich plätscherte. Doch jetzt wurde es Zeit, uns weiterzuwenden, wenn wir noch mehr von der Stadt sehen wollten, wir suchten den Holzmarkt und den Roßmarkt auf und freuten uns über die Erker, die an verschiedenen Häusern vorgebaut waren. Merkwürdigerweise aber fanden wir nur wenig Gebäude, deren Obergestock über das untere Geschoß hervorgeragt hätte. Und doch hatten sie einst diese Eigentümlichkeit gezeigt.
Hin und her führte uns noch der Weg, so daß kaum eine der engen Gassen übrigblieb, die wir nicht betreten hätten. Schon brach der Abend herein. Behäbige Bürgersleute hatten auf den Steinsitzen unter dem Tore ihrer Häuser Platz genommen und plauderten miteinander, wieder läutete die Glocke. Da suchten wir unsere Herberge in der Lohgasse aus. Hier ging es lebhaft zu. Die ehrsamen Meister der Tuchmacherzunft waren zum Abendtrunke beieinander und erzählten an Holztischen mit kräftigen, gekreuzten Beinen von ihren Wanderfahrten und vom Gange der Geschäfte. Einige Bauern, die vom Markt her zurückgeblieben waren, brachen eben auf, um noch vor Torschluß aus der Stadt zu kommen. Aber auch für die übrigen Gäste währte der Aufenthalt nicht mehr lange, denn um 9 Uhr läutete wieder die Glocke und gab das Zeichen, daß der Schank für heute zu Ende sei. Sofort verfügten wir uns in unsere Kammer und genossen gute Ruhe. Erst der Gesang der sogenannten Kurrende, die durch die Straßen zog, weckte uns am Morgen.
E.Weinhold
(Quellen: Deutsches Lesebuch 1928 – Teil 3 (4.Schuljahr) – Otto Gaudig – http://gei-digital.gei.de/viewer/image/PPN1019301821/219/ – Illustrationen aus: „Sachsen in Bildern“ von Friedrich Georg Wieck – Reprint vom Verlag Heimatland Sachsen und „Chemnitz und Umgebung..“ von E. Weinhold)