Das wohl erste Großereignis der Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das „6. Wettin-Bundes-Schießen“, das vom 14. bis 21. August 1904 in Chemnitz abgehalten wurde. Über die Vorbereitung und Durchführung wurde damals ausführlich berichtet, eine Postkartenserie herausgegeben und eine Gedenkmedaille geprägt. An dieses Ereignis möchte ich an dieser Stelle erinnern.
Ausrichter dieses Wettschießens war der Wettin-Schützenbund. Zunächst etwas zu seiner Geschichte.
Am 12. Juni 1892 wurde in Zwickau auf der Generalversammlung der Wettin-Jubiläum-Stiftung in Zwickau beschlossen, das Bündnis aller sächsischen Schützen weiter zu stärken und den Wettin-Schützenbund zu gründen. Den Anstoß zur Gründung gab die drei Jahre zuvor anlässlich des 800-jährigen Jubiläums des Fürstenhauses Wettin dem König Albert überreichte Stiftung der Schützenvereine Sachsens, die dieser in die Eigenverwaltung der Schützenvereine mit der Maßgabe zurückgab, dass sie unter dem Schutz des Landesherrn den Namen „Wettin- Jubiläumsstiftung der Schützenvereine Sachsens“ führen sollte.
Schon an diesem Tag erklärten sich 24 Schützenvereine bereit, darunter auch die Privilegierte Schützengesellschaft zu Chemnitz, dem Bund beizutreten. Im Vorfeld beschlossen die vereinigten Zwickauer Schützen, zu Ehren des neu zu gründenden Wettin-Schützenbundes vom 12. bis 20. Juni 1892 ein Festschießen für die Schützen des Königreiches Sachsen unter dem Namen „Wettinschießen“ durchzuführen. Dieses Schießen war zugleich der Vorreiter für die später durchgeführten 16 Wettin-Bundes-Schießen.
Zu den Aufgaben des Bundes gehörten neben der Vervollkommnung des Schießwesens die Aufklärung in allen Schießfragen, die Verbreitung wichtiger Kenntnisse über das Schießwesen und die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen, die Förderung der Interessen der Schützenvereine, gemeinsame Unfall- und Haftpflichtversicherungen und anderes mehr. Besondere Aufmerksamkeit wurde auch der Ausbildung der Jugend im Gebrauch der Schusswaffe, dem Armeegewehrschießen und dem Tontaubenschießen gewidmet. Stiftung und Bund zählten bis zum Ersten Weltkrieg zusammen 360 sächsische Vereine. Sie hatten sich damit zu einer gemeinsamen Organisation entwickelt, die das gesamte Schützenwesen des Königreichs zusammenhielt. Auf der Generalversammlung am 11. Juni 1893 in Döbeln wurde der Wettin-Schützenbund dann offiziell gegründet. Zwischen dem 19 und 22. August 1894 fand in den Dresden das „1. Wettin-Bundes-Schießen“, weitere Städte waren in der Folge: 1896 Schneeberg, 1898 Döbeln, 1900 Freiberg, 1902 Zittau bis schließlich 1904 Chemnitz für das „6. Wettin-Bundes-Schießen“ ausgewählt wurde.
Bereits im Frühjahr 1904 bildete die Chemnitzer Privilegierte Scheibenschützengesellschaft als festgebender Verein die erforderlichen Ausschüsse, die sofort ihre Tätigkeit aufnahmen. Vor allem hoffte man, dass auch König Georg, der Protektor des Wettin-Schützenbundes, dem Fest einen Besuch abstatten würde. Doch daraus wurde leider nichts.
Zu den Feierlichkeiten wurde berichtet: „Das sächsische Manchester, die Stadt achtunggebietender Intelligenz und unermüdlicher Arbeit, Chemnitz, trug am Sonntag die Signatur festlichen Lebens und Wogens, in dessen Mittelpunkt das sechste Wettin-Bundesschießen stand. Das vom herrlichsten Wetter begünstigte Fest hatte nicht nur zahlreiche Schützen aus den verschiedensten Gegenden Sachsens nach Chemnitz gelockt, sondern auch die Bevölkerung des Erzgebirges und der sonstigen Umgebung von Chemnitz war zu Tausenden zu dem Feste gekommen. Bald nach 11 Uhr erfolgte vor dem festlich geschmückten Rathause an der Poststraße die Übergabe des bisher in der Verwahrung der Stadt Zittau gewesenen Bundesbanners an die Stadt Chemnitz, welche das Abzeichen des Wettin-Schützenbundes bis zu dem in zwei Jahren stattfindenden siebenten Wettin-Bundesschießen aufbewahren wird.
Nachdem unter festlicher Musik und Begleitung von Fahnenkompanien das von Jungfrauen umgebene Banner auf einem prächtigen Festwagen vor das Rathaus, wo sich die Vertreter der Stadtverwaltungen zu Zittau und Chemnitz und auch der Vorstand des Wettin-Schützenbundes und die Mitglieder der Ausschüsse versammelt halten, gebracht worden war, ergriff Oberbürgermeister Oertel-Zittau das Wort und bemerkte in seiner Rede unter anderem, daß der Wettin-Schützenbund sich nicht nur mit dem Schießsport beschäftige, sondern in erster Reihe eine Vereinigung zur Stärkung der Zusammengehörigkeitsgefühle, der Liebe zu König und Vaterland und zur Hochhaltung von Gesetz und Ordnung sei, und alles unter dem Namen und Protektorat des erlauchten sächsischen Herrscherhauses vollbringe. Mit den besten Wünschen für das Gelingen des Festes zu Ehren der Stadt Chemnitz und des Wettin-Schützenbundes übergab der Redner das Banner dem Oberbürgermeister Dr. Beck-Chemnitz, welcher nach begrüßenden Worten betonte, daß es der Stadt Chemnitz zur Ehre gereiche, das Bundesbanner zu schützen und zu bewahren. Er wünsche dem Feste unter dem Zeichen dieses Banners das beste Gelingen. Hierauf überreichte Fräulein Baldauf den Herren des Ehrenausschusses Blumenspenden. Nachdem Grunewald von der Chemnitzer privilegierten Scheibenschützengesellschaft das Banner übernommen hatte, setzte sich die Gruppe mit den Teilnehmern an der Übergabe des Bundesbanners in prächtigen Karossen an die Spitze des inzwischen herangekommenen Festzuges, dieser begann am Neustädter Markt, dessen Vorbeimarsch nahezu eine Stunde in Anspruch nahm. Unter den 4.000 Personen, die an dem Festzuge teilnahmen, waren etwa 1.500 Schützen. Dieselben boten in ihrer schmucken Tracht und mit ihren schönen Fahnen ein abwechslungsreiches Bild. Inmitten des Schützenzuges, den Schützenvereinigungen aus 37 verschiedenen Orten Sachsens bildeten, fuhr der Gabenwagen, auf dem eine Fortuna mit reichem Füllhorn, umgeben von Grazien mit Ehrengaben der verschiedensten Art, thronte.
Den Schützen folgten die vereinigten Königlich Sächsischen Militärvereine von Chemnitz, die Chemnitzer Innungen und beruflichen Vereinigungen, die Turner, Abordnungen der Sänger und Vereine der verschiedensten Art. Die einzelnen Gruppen waren durch prunkvolle Festwagen belebt. Die Feldschlößchen-Brauerei Kappel-Chemnitz führte in ihrer Abteilung ein kolossales Mutterfaß mit sich und stellte in schöner Weise das Brauereigewerbe dar. Unter den Innungen, deren zu einem Teile sehr alten und interessanten Fahnen Aufsehen erregten, taten sich besonders die Bäcker und Fleischer durch großartige Darstellung ihrer Zunft hervor. Doch auch andere Berufe hatten Mühen und Kosten nicht gescheut, um ihren Stand würdig und charakteristisch zu vertreten. Der dramatische Verein „Hilaritas“ führte den Prinzenraub durch Kunz von Kauffungen vor, und ein Festwagen der „Steamer Hansa“, einer Vereinigung, welche die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger werktätig unterstützt, zeigte auf einem Wagen ein bemanntes Rettungsboot der Gesellschaft in echter Ausstattung. Die Chemnitzer Fuhrherren erschienen stattlich zu Pferd und Wagen und führten das altdeutsche Fuhrwesen, den Maschinentransport, sowie die moderne Personenbeförderung vor. Viel Beifall fanden auch der Festwagen der Heidelberger Studenten, gestellt von der Firma Barthold, der Festwagen der Schützengesellschaft „Schloß Chemnitz“ (Tellszene), der Festwagen des Etablissements „Reichelts Neue Welt“ (der Waldkönig) und der Festwagen der Firma Wilhelm März (Meißner Porzellan). Ein von mehr als einhundert Personen gebildeter historischer Schützenfestzug mit kostümierten Spielleuten, Trommlern, Pfeifern und einem Fähnlein Landsknechten, sowie einem von der Jagd in eine Stadt einziehenden Fürsten nebst Gefolge bildete den Höhepunkt des Festzuges, und den Schluß machte in humorvollster Weise ein Zug des Schützennachwuchses, nämlich die A-B-C-Schützen mit Schulranzen und Zuckertüte. Die einzelnen Truppen des Zuges wurden von Feuerwehrabteilungen begleitet. Der Festzug bewegte sich durch die Stadt über den Markt nach dem Festplatze in Altendorf, woselbst eine große Zelt- und Budenstadt aufgebaut war und unter Anteilnahme zahlreicher Ehrengäste im Schützenhause eine Festtafel stattfand. Auf dem Festplatze entwickelte sich gleichzeitig das bei großen Schützenfesten übliche Leben und Treiben. Am Sonnabendabend war dem Hauptfesttage ein Begrüßungskommers im Hotel „Burg Wettin“ vorangegangen.“
Am Montagmorgen begann das Schießen auf dem Altendorfer Schießplatz. Ehrengaben für die erfolgreichen Schützen waren erfreulicherweise in sehr großer Zahl eingegangen. Seine Majestät König Georg stiftete eine wertvolle Vase aus Meißner Porzellan, die Stadt Chemnitz bestimmte 1500 Mark als Preise in bar. Von der Bundeskasse wurden 1.000 Mark und von der Chemnitzer Privilegierten Scheibenschützengesellschaft wurden 2.000 Mark gestiftet.
Bis zum Freitag wurde täglich von früh 7:30 Uhr bis abends 19:00 Uhr geschossen. Für Mittwoch war ein Gesellschaftswettschießen vorgesehen, bei welchem drei silberne Ehrenbecher verteilt wurden. Im ganzen waren 30 Scheiben aufgestellt worden, nämlich 10 Stand Punktscheiben, 6 Standmeisterscheiben und zwei Standfestscheiben in je 175 Meter Entfernung für freihändiges und aufgelegtes Schießen, 3 Feldpunktscheiben, 3 Feldmeisterscheiben und 1 Feldfestscheibe in je 300 Meter Entfernung für nur freihändiges Schießen, und schließlich 2 Pistolenpunktscheiben, 2 Pistolenmeisterscheiben und 1 Pistolenfestscheibe in je 35 Meter Entfernung. Die Festscheiben führten die Namen „Heimat“, „Wettin“, „Sachsen“ und „Chemnitz“ und waren reich mit Ehren- und Geldpreisen ausgestattet.
Den Abschluss des Wettin-Bundes-Schießens bildete am Freitag ein prächtiges Feuerwerk auf dem Festplatz, mit dem die von prächtigem Wetter begleitete Festwoche einen schönen Ausklang fand. Enttäuscht waren nur die Schaubudenbesitzer und Händler, denn der Besucherandrang auf dem Festplatz blieb weit hinter den Erwartungen zurück.
Am 19. August 1906 übergab der Chemnitzer Oberbürgermeister Dr. Beck auf dem Plauener Altmarkt das Banner des Wettin-Schützenbundes, das bei der Stadtverwaltung seit 1904 verwahrt wurde, dem dortigen Oberbürgermeister Dr. Schmidt zum nächsten „Wettin-Bundes-Schießen“.
(Quellen u.a.: Frankenberger Tageblatt vom 8. und 17. August 1904, verschiedene Ausgaben sächsischer Zeitungen zu finden SLUB-Dresden.de; Bilder aus der Sammlung Chemnitzer Hobbyhistoriker)